Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerpflegebedürftigkeit. Querschnittlähmung. Gleichstellungssachverhalt. Pflegebedarf von täglich mehr als drei Stunden. Rufbereitschaft. Wartezeiten der Pflegeperson. Pflegetagebuch
Leitsatz (amtlich)
Zu den Feststellungen über die Art und den zeitlichen Umfang der Hilfe bei den Verrichtungen des täglichen Lebens im Hinblick auf die Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit.
Normenkette
SGB V §§ 53, 57
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Urteil vom 04.02.1994; Aktenzeichen L 4 Kr 242/93) |
SG Osnabrück (Urteil vom 06.10.1993; Aktenzeichen S 3 Kr 97/92) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 4. Februar 1994 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Pflegegeld wegen Schwerpflegebedürftigkeit.
Der im Jahre 1959 geborene und bei der beklagten Betriebskrankenkasse (BKK) versicherte Kläger leidet unfallbedingt seit 1978 an einer spastischen Querschnittslähmung mit Blasen- und Mastdarmlähmung infolge Bruchs des 8. und 9. Brustwirbelkörpers mit Kompression des Rückenmarks sowie an Teilsteife beider Hüftgelenke. Er ist als Schwerbehinderter mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 anerkannt.
Ende November 1990 stellte der Kläger, der von seiner Mutter betreut wird, einen Antrag auf Gewährung von Pflegegeld ab 1. Januar 1991, den die Beklagte unter Hinweis auf ein Schwerpflegebedürftigkeit verneinendes sozialmedizinisches Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Niedersachsen (MDKN) vom 16. Mai 1990 ablehnte (Schreiben vom 28. Januar 1991).
Im Oktober 1991 beantragte der Kläger im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 Sozialgesetzbuch – Zehntes Buch – (SGB X) erneut, ihm ab 1. Januar 1991 wegen Schwerpflegebedürftigkeit Pflegegeld zu gewähren. Dies lehnte die Beklagte aufgrund der für den Kläger negativ verlaufenen weiteren Begutachtungen durch den MDKN vom 10. Dezember 1991 und 14. Mai 1992 wiederum ab (Bescheid vom 25. Mai 1992; Widerspruchsbescheid vom 30. Juni 1992). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 6. Oktober 1993). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 4. Februar 1994).
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 53 und 57 Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch – (SGB V). Querschnittsgelähmte Schwerbehinderte mit einer Blasen- und Mastdarmlähmung seien im Sinne einer typisierenden Einordnung unabhängig von Besonderheiten des Einzelfalls als schwerpflegebedürftig anzusehen; dies sei aus dem Urteil des 1. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) – 1 RK 17/92 – vom 8. Juni 1993 (SozR 3-2500 § 53 Nr 2) zu folgern.
Hilfsweise macht der Kläger geltend, angesichts seiner Hilfebedürftigkeit bei 12 von 18 Verrichtungen des täglichen Lebens habe das LSG Gleichstellungssachverhalte prüfen müssen, was nicht ausreichend geschehen sei. Seine Mutter sei bei der täglichen Pflege einer besonderen Belastung ausgesetzt. Zudem beanspruche die erforderliche Grundpflege täglich mehr als drei Stunden.
Seit dem 1. April 1995 bezieht der Kläger Leistungen wegen “erheblicher Pflegebedürftigkeit” (Pflegestufe I) nach §§ 15 Abs 1 Nr 1 und 36 ff Sozialgesetzbuch – Elftes Buch – (SGB XI). Zugrunde liegt ein neues Gutachten des MDKN vom 27. April 1995, nach dem die durchschnittliche tägliche Pflegedauer im Grundbedarf 80 Minuten und im hauswirtschaftlichen Versorgungsbedarf 45 Minuten beträgt.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 4. Februar 1994 und des Sozialgerichts Osnabrück vom 6. Oktober 1993 sowie den Bescheid der Beklagten vom 25. Mai 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. Juni 1992 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 28. Januar 1991 zurückzunehmen und Pflegegeld für den Zeitraum vom 1. Januar 1991 bis zum 31. März 1995 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Berufungsurteil.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist im Sinne der Zurückverweisung des Rechtsstreits begründet. Aufgrund der bisherigen Tatsachenfeststellungen ist nicht zu beurteilen, ob dem Kläger für den fraglichen Zeitraum Pflegegeld iHv 400,-- DM monatlich zu zahlen ist und deshalb die bindend gewordene ablehnende Entscheidung der Beklagten vom 28. Januar 1991 nach § 44 Abs 1 SGB X von ihr zurückgenommen werden muß.
Der Anspruch richtet sich nach den §§ 53 bis 57 SGB V. Diese Vorschriften sind zwar nach Art 4 Nr 4 des Gesetzes zur Sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (Pflege-Versicherungsgesetz) vom 26. Mai 1994 (BGBl I Nr 30 S 1014) zum 1. April 1995 außer Kraft getreten und zu diesem Zeitpunkt durch die Regelungen des SGB XI ersetzt worden. Sie bleiben aber für die Zeit bis zum 31. März 1995 maßgeblich, auf die es hier allein ankommt.
Nach § 57 SGB V kann die Krankenkasse bis zum 31. März 1995 auf Antrag des schwerpflegebedürftigen Versicherten anstelle der häuslichen Pflegehilfe einen Geldbetrag von 400,-- DM je Kalendermonat zahlen, wenn der Schwerpflegebedürftige die Pflege durch eine Pflegeperson in geeigneter Weise und in ausreichendem Umfang selbst sicherstellen kann. Der Anspruch auf häusliche Pflegehilfe hängt ferner davon ab, daß gemäß § 54 SGB V eine bestimmte Mindestversicherungszeit erfüllt ist. Von den genannten Voraussetzungen ist hier allein zweifelhaft und streitig, ob der Kläger schwerpflegebedürftig iS des § 53 Abs 1 SGB V ist.
Schwerpflegebedürftig sind nach dieser Regelung solche Versicherte, die nach ärztlicher Feststellung wegen einer Krankheit oder Behinderung so hilflos sind, daß sie für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer in sehr hohem Maße der Hilfe bedürfen. Schon der 1. Senat des BSG hat mit Urteil vom 8. Juni 1993 – 1 RK 17/92 – (SozR 3-2500 § 53 Nr 2), auf das der Kläger sich ausdrücklich berufen hat und das ebenfalls einen unter einer Querschnittslähmung mit Mastdarm- und Blasenlähmung leidenden Versicherten betraf, entschieden, daß das Vorliegen von Schwerpflegebedürftigkeit revisionsgerichtlich überprüfbar ist. Er hat dazu ausgeführt, daß die Zugehörigkeit zu einer Behindertengruppe, der die Pflegezulage des § 35 Bundesversorgungsgesetz (BVG) nach den Stufen 4 bis 6 zusteht, wie das bei der Gruppe der Querschnittsgelähmten mit Blasen- und Mastdarmlähmung der Fall ist, ein Anzeichen für das Vorliegen von Schwerpflegebedürftigkeit ist. Der 4. Senat hat in seinem Urteil vom 30. September 1993 – 4 RK 1/92 – (SozR 3-2500 § 53 Nr 4) die für die Beurteilung der Schwerpflegebedürftigkeit erforderlichen Tatsachenfeststellungen unabhängig von dem GdB im Sinne des Schwerbehindertenrechts und unabhängig von einer Zugehörigkeit zu einer der genannten Behindertengruppen im Sinne des BVG nach Maßgabe des Pflegebedarfs im Tagesablauf umschrieben. Der erkennende Senat hat sich dieser Rechtsprechung angeschlossen und sie dahin zusammengefaßt, daß zwar auch bei der Zugehörigkeit zu einer der im Versorgungsrecht umschriebenen Pflegestufen 4 bis 6 die vom 4. Senat nach Maßgabe eines Katalogs von Verrichtungen geforderten Feststellungen zu treffen sind, und daß aber ein Hilfebedarf bei neun oder mehr Verrichtungen in diesen Fällen in der Regel als sehr hoch zu bewerten ist (Urteil vom 9. Februar 1994 – 3/1 RK 45/92 – SozR 3-2500 § 53 Nr 5).
Schwerpflegebedürftig ist danach, wer
- 1. bei vierzehn oder mehr Verrichtungen des täglichen Lebens aus den nachfolgend genannten achtzehn Verrichtungen im wesentlichen krankheits- oder behinderungsbedingt der Hilfe einer anderen Person bedarf oder
- 2. neben einem Hilfebedarf von neun bis dreizehn dieser Verrichtungen beim Vorliegen besonderer Gleichstellungssachverhalte einen entsprechenden Gesamtpflegebedarf hat.
Für die erste Feststellung, bei wie vielen Verrichtungen der Versicherte fremder Hilfe bedarf, kommt es auf die Intensität der erforderlichen Hilfe grundsätzlich nicht an. Nur wenn bei mehr als acht der genannten Verrichtungen ein Hilfebedarf auftritt, ist eine Gesamtabwägung erforderlich, die auch die Intensität der jeweils geforderten Hilfeleistung berücksichtigt. In diese Gesamtabwägung ist auch die oben erwähnte Zugehörigkeit eines Betroffenen zu einer der genannten Behindertengruppen iS des BVG einzubeziehen.
Im einzelnen handelt es sich um folgende Verrichtungen:
Verrichtungen des Grundbedarfs:
1. Aufstehen/Zubettgehen, 2. Gehen, 3. Stehen, 4. Treppensteigen, 5. Waschen oder Duschen oder Baden, 6. Mundpflege, 7. Haarpflege, 8. An- und Auskleiden, 9. Nahrungsaufnahme, 10. Nahrungszubereitung, 11. Benutzung der Toilette, 12. Sprechen, 13. Sehen, 14. Hören.
Verrichtungen des hauswirtschaftlichen Versorgungsbedarfs:
15. Einkauf von Nahrungs- und Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens, 16. Wohnungsreinigung, 17. Reinigung und Pflege der Wäsche, 18. sonstige hauswirtschaftliche Arbeiten (zB Reinigung von Haushaltsgegenständen; Einräumen von Wäsche, Geschirr etc; Versorgung der Heizung).
Der Gesamtzusammenhang des angefochtenen Urteils läßt mit der erforderlichen Deutlichkeit erkennen, daß bei dem Kläger ein mehr als nur völlig unbedeutender und damit für den Leistungsanspruch relevanter Hilfebedarf bei zwölf Verrichtungen vorliegt. Im einzelnen ist der Kläger nach den insoweit unangefochtenen und daher bindenden Feststellungen (§ 163 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) des LSG vollständig oder teilweise auf fremde Hilfe angewiesen beim Aufstehen und Zubettgehen, beim Gehen, Stehen, Treppensteigen, Waschen oder Duschen oder Baden, beim An- und Auskleiden, bei der Nahrungszubereitung, der Benutzung der Toilette, beim Einkaufen, bei der Wohnungsreinigung, der Reinigung und Pflege der Wäsche sowie bei sonstigen hauswirtschaftlichen Arbeiten. Der Kläger ist zwar mit einem Rollstuhl versorgt, der ihm ohne fremde Hilfe eine gewisse Bewegungsfreiheit innerhalb und außerhalb seines behindertengerecht eingerichteten Hauses ermöglicht. Durch dieses Hilfsmittel werden aber die Funktion des Gehens, des Stehens und des Treppensteigens nicht vollständig ausgeglichen. Der Ausfall dieser Funktionen ist deshalb nach dem Katalog der Verrichtungen mitzuberücksichtigen, weil er dazu führt, daß der Kläger jedenfalls zeitweise auf fremde Hilfe angewiesen bleibt.
Kein Hilfebedarf besteht hingegen bei der Mund- und Haarpflege, bei der Nahrungsaufnahme sowie beim Sprechen, Sehen und Hören.
Der Kläger ist damit zwar bei mehr als acht und weniger als vierzehn Verrichtungen hilfebedürftig. Die bei ihm bestehende Behinderung – Querschnittlähmung mit Mastdarm- und Blasenlähmung – begründet nach Versorgungsrecht einen Anspruch auf die Pflegezulage nach der Stufe 5. Dies ist ein wichtiges Anzeichen dafür, daß der Pflegebedarf als sehr hoch zu bewerten ist. Daß dieses Anzeichen nicht eingreift, weil der konkrete Pflegebedarf des Klägers hinter dem durchschnittlichen Pflegebedarf der genannten Behindertengruppe zurückbleibt, kann der Senat den Feststellungen des LSG nicht entnehmen. Das LSG hat lediglich festgestellt, daß die Behinderung des Harn- und Stuhlabgangs nicht zu Wäscheverschmutzungen führt. Daß der tatsächliche Pflegebedarf entgegen dem Vorbringen des Klägers nachweisbar unter täglich drei Stunden liegt, was das Anzeichen ebenfalls widerlegen würde, ist vom LSG nicht festgestellt. Insoweit ist zu berücksichtigen, daß in Anbetracht einer Hilfebedürftigkeit bei zwölf Verrichtungen ein zeitlicher Aufwand bei der Grundpflege von durchschnittlich mehr als 180 Minuten täglich nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, und daß überdies die Art der Behinderung einen höheren Pflegebedarf erwarten läßt. Unter diesen Umständen kann eine globale Feststellung, der Pflegebedarf übersteige drei Stunden täglich nicht, nicht genügen.
Es ist vielmehr erforderlich, für jede der zwölf Verrichtungen, bei denen der Kläger der Hilfe bedarf, den durchschnittlichen täglichen Zeitaufwand für die Hilfe im einzelnen festzustellen. Soweit dabei die Gutachten des MDKN herangezogen werden, ist darauf hinzuweisen, daß diesen nicht zu entnehmen ist, ob sie (1) vom tatsächlichen zeitlichen Pflegeaufwand der konkreten Pflegeperson(en) – hier die Mutter des Klägers –, (2) vom durchschnittlichen Zeitbedarf einer nicht in der Pflege ausgebildete(n) Pflegeperson oder (3) vom zeitlichen Pflegeaufwand einer ausgebildeten Pflegekraft ausgehen. Überdies ist nicht ersichtlich, (a) ob für die Katalogverrichtungen der individuelle Pflegebedarf des Betroffenen als Maßstab für die Festlegung des zeitlichen Aufwandes herangezogen wird oder (b) ob durchschnittliche, etwaige Besonderheiten des Einzelfalls nicht berücksichtigende pauschale Erfahrungswerte angesetzt werden. Ferner ist in den Gutachten nicht deutlich geworden, ob und ggf in welchem Umfang Zeiten der Rufbereitschaft (vgl BAG AP Nr 33 zur § 15 BAT), oder Wartezeiten, in denen die Pflegeperson zur jederzeitigen sofortigen Hilfestellung bei einer länger dauernden Verrichtung oder zwischen zwei Verrichtungen bereit steht bzw stehen muß, in Ansatz gebracht worden sind. Sollten weitere Ermittlungen des LSG ergeben, daß der Pflegeaufwand bei jeder der aufgezeigten Berechnungsmethoden drei Stunden täglich übersteigt, dann bedarf die Frage, welche Berechnungsmethode dem Gesetz entspricht, keiner Entscheidung. Gleichwohl kann das LSG auch so verfahren, daß es zunächst die Frage nach der richtigen Berechnungsmethode entscheidet und seine Sachverhaltsaufklärung auf diese beschränkt. Deshalb bedarf die Frage nach der richtigen Berechnungsmethode an dieser Stelle noch keiner abschließenden Beurteilung.
Zur Stützung seines Vorbringens über den zeitlichen Pflegeaufwand und zur Erleichterung der Ermittlungen des LSG dürfte es sich für den Kläger und seine Mutter empfehlen, über einen längeren Zeitraum, der einen Monat nicht unterschreiten sollte, täglich die Art und die Dauer der Hilfe bei den einzelnen Verrichtungen möglichst exakt und beim Zeitbedarf in Minutenangaben unter gesonderter Anführung von Rufbereitschaft und Wartezeiten aufzuzeichnen und dieses “Pflegetagebuch” dem Gericht vorzulegen. Sieht das LSG nicht den konkreten Pflegeaufwand als maßgebend an, sondern folgt es einer anderen Berechnungsmethode, so hat es gleichwohl von den vom Kläger angegebenen Verrichtungen auszugehen und für diese, soweit sie erforderlich sind, jeweils Einzelzeiten festzustellen. Weicht der vom Kläger angesetzte Zeitbedarf in erheblichem Maße vom durchschnittlichen Zeitbedarf ab, so ist die Erforderlichkeit mit Hilfe eines pflegerischen Sachverständigengutachtens zu überprüfen.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen