Verfahrensgang
LG Hamburg (Beschluss vom 29.06.2005; Aktenzeichen 622 Qs 16/05) |
LG Hamburg (Beschluss vom 30.03.2005; Aktenzeichen 622 Qs 16/05) |
Tenor
Die Beschlüsse des Landgerichts Hamburg vom 29. Juni 2005 und vom 30. März 2005 – 622 Qs 16/05 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Hamburg zurückverwiesen.
Die Freie und Hansestadt Hamburg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Der Beschwerdeführer beanstandet eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör in einem Beschwerdeverfahren gegen einen Durchsuchungsbeschluss.
I.
1. Gegen den Beschwerdeführer wurde wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung, der Brandstiftung, Sachbeschädigung und Nötigung ermittelt. Das Amtsgericht ordnete die Durchsuchung der Wohnung des Beschwerdeführers an.
2. Nach der Durchsuchung beantragte die Verteidigerin des Beschwerdeführers Akteneinsicht und erhob Beschwerde gegen den Durchsuchungsbeschluss, die sie nach Einsicht in die Akten weiter begründen wolle. Die Staatsanwaltschaft teilte mit, derzeit könne gemäß § 147 Abs. 2 StPO Akteneinsicht nicht gewährt werden.
3. Das Landgericht verwarf die Beschwerde mit dem ersten seiner angegriffenen Beschlüsse. Es ergänzte die Darlegungen zum Tatverdacht.
4. Der Beschwerdeführer beantragte die Nachholung rechtlichen Gehörs, weil seiner Verteidigerin Akteneinsicht nicht gewährt worden sei und er sich deshalb vor der Beschwerdeentscheidung nicht habe äußern können. Das Landgericht setzte der Verteidigerin daraufhin eine Äußerungsfrist, lehnt Akteneinsicht aber mit Hinweis auf § 147 Abs. 5 StPO ab. Eine Zurückstellung der Entscheidung komme nicht in Betracht, da im Ermittlungsverfahren zeitnah entschieden werden müsse und derzeit nicht absehbar sei, wann Akteneinsicht gewährt werden könne. Die Verteidigerin entgegnete, der nachträglich gewährte Rechtsschutz laufe ohne die Möglichkeit der Akteneinsicht leer.
5. Mit dem zweiten der angegriffenen Beschlüsse bestätigte das Landgericht seinen ersten Beschluss.
6. Der Beschwerdeführer rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Die Entscheidung über die Beschwerde hätte zurückgestellt werden müssen, bis Akteneinsicht hätte gewährt werden können. Durch das gewählte Vorgehen sei ihm die Möglichkeit genommen worden, sich vor der Beschwerdeentscheidung zur Sache zu äußern. Da erst nachträglich Rechtsschutz gewährt werden könne, werde dieser durch eine Entscheidung vor Akteneinsicht ineffektiv, und Art. 19 Abs. 4 GG sei deshalb verletzt. Dies entwerte zudem den Richtervorbehalt, so dass auch gegen Art. 13 Abs. 1 und 2 GG verstoßen worden sei.
II.
1. Die Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg hatte Gelegenheit zur Äußerung. Sie hat eine Stellungnahme nicht abgegeben.
2. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten 7101 Js 173/05 der Staatsanwaltschaft Hamburg vorgelegen.
III.
Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Zu dieser Entscheidung ist die Kammer berufen, weil das Bundesverfassungsgericht die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden hat (§ 93c Abs. 1 BVerfGG).
Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG.
1. a) Das Grundgesetz sichert das rechtliche Gehör im gerichtlichen Verfahren durch Art. 103 Abs. 1 GG. Rechtliches Gehör ist nicht nur ein prozessuales Urrecht des Menschen, sondern auch ein objektivrechtliches Verfahrensprinzip, das für ein rechtsstaatliches Verfahren im Sinne des Grundgesetzes konstitutiv und grundsätzlich unabdingbar ist (vgl. BVerfGE 55, 1 ≪6≫). Der Einzelne soll nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein, sondern vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um als Subjekt Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (vgl. BVerfGE 9, 89 ≪95≫). Rechtliches Gehör sichert den Beteiligten ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten im Prozess selbstbestimmt und situationsspezifisch gestalten können. Art. 103 Abs. 1 GG steht in einem funktionalen Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie des Grundgesetzes (vgl. BVerfGE 81, 123 ≪129≫). Dem kommt besondere Bedeutung zu, wenn im strafprozessualen Ermittlungsverfahren Eingriffsmaßnahmen ohne vorherige Anhörung des Betroffenen gerichtlich angeordnet werden (§ 33 Abs. 4 StPO). Dann ist das rechtliche Gehör jedenfalls im Beschwerdeverfahren nachträglich zu gewähren (vgl. BVerfGK 3, 197 ≪204≫; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Januar 2006 – 2 BvR 1075/05 –, NJW 2006, S. 1048).
b) Ist – wie hier im Bereich des Strafprozesses – ein “in camera”-Verfahren mit Art. 103 Abs. 1 GG unvereinbar, so folgt daraus, dass eine dem Betroffenen nachteilige Gerichtsentscheidung jedenfalls in der Beschwerdeinstanz nur auf der Grundlage solcher Tatsachen und Beweismittel getroffen werden kann, über die er zuvor sachgemäß unterrichtet wurde und zu denen er sich äußern konnte. § 33, § 33a StPO beschränken die gebotene Anhörung nicht auf Tatsachen und Beweisergebnisse; vielmehr ist über den Wortlaut der Bestimmungen im engeren Sinn hinaus jeder Aspekt des rechtlichen Gehörs davon erfasst (vgl. BVerfGE 42, 243 ≪250≫). Zum Anspruch auf Gehör vor Gericht gehört demnach auch die Information über die entscheidungserheblichen Beweismittel. Namentlich für Haftfälle gehen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und in ähnlicher Weise auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte davon aus, dass eine gerichtliche Entscheidung nur auf Tatsachen und Beweismittel gestützt werden darf, die dem Beschuldigten durch Akteneinsicht der Verteidigung bekannt sind (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 1994 – 2 BvR 777/94 –, NJW 1994, S. 3219 ≪3220 f.≫; EGMR, NJW 2002, S. 2013 ≪2014≫). Auf Haftfälle ist die Anwendung des Art. 103 Abs. 1 GG aber nicht beschränkt (vgl. BVerfGK 3, 197 ≪205 f.≫; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Januar 2006, a.a.O., S. 1048 f.).
c) Ein ausreichender Grund für eine Entscheidung auf der Grundlage eines Akteninhalts, der dem Beschuldigten nicht zugänglich ist, besteht im Beschwerdeverfahren grundsätzlich nicht. Die Gewährung von Akteneinsicht im Ermittlungsverfahren richtet sich nach § 147 StPO. Danach kann im Einzelfall die Akteneinsicht verweigert werden, wenn bestimmte Strafverfolgungsinteressen dies gebieten. Staatlichen Geheimhaltungsbedürfnissen könnte für sich genommen dadurch Rechnung getragen werden, dass die Kenntnisnahme von den maßgeblichen Informationen auf das Gericht beschränkt bliebe (vgl. bezogen auf ein verwaltungsgerichtliches “in camera”-Verfahren unter ausdrücklichem Ausschluss des Strafverfahrens BVerfGE 101, 106 ≪128 ff.≫). Das verträgt sich jedoch im Bereich des Strafprozesses nicht mit den besonderen Anforderungen an die Rechtsstaatlichkeit dieses Verfahrens (vgl. BVerfGE 57, 250 ≪288 f.≫; 67, 100 ≪133 ff.≫; BGH, NStZ 2000, S. 265 ≪266≫; und für das strafprozessähnliche Parteiverbotsverfahren BVerfGE 107, 339 ≪369≫).
Im Strafverfahren wirken Geheimhaltungsinteressen der Exekutive “in dubio pro reo” (vgl. BVerfGE 101, 106 ≪130≫), auch wenn sie rechtlich anerkannt oder gar geboten sind. Das Ermittlungsgeheimnis zu wahren, kann sowohl im Interesse der Untersuchung liegen, aber auch zur Schonung des Beschuldigten oder zum Schutz eines gefährdeten Zeugen geboten sein. Vor allem zur Sicherung des Ermittlungserfolgs kann es unabweisbar sein, die Untersuchungen zunächst geheim zu führen und weder die Art des Vorgehens noch erlangte Erkenntnisse offen zu legen.
Der Rechtsstaatsgedanke gebietet es dann, dass der von einer strafprozessualen Eingriffsmaßnahme betroffene Beschuldigte jedenfalls nachträglich, aber noch im gerichtlichen Verfahren über die Rechtmäßigkeit des Eingriffs, Gelegenheit erhält, sich in Kenntnis der Entscheidungsgrundlagen gegen die Eingriffsmaßnahme und den zu Grunde liegenden Vorwurf zu verteidigen (vgl. BVerfGE 18, 399 ≪404≫; BVerfGK 3, 197 ≪204≫; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Januar 2006, a.a.O., S. 1049). Die Ermittlungsbehörden müssen die Unabdingbarkeit dieser rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien mit ihrem etwaigen Interesse abwägen, die Ermittlungen zunächst im Verborgenen zu führen. Solange sie es für erforderlich halten, die Ermittlungen dem Beschuldigten nicht zur Kenntnis gelangen zu lassen, müssen sie auf solche Eingriffsmaßnahmen verzichten, die, wie die Untersuchungshaft oder der Arrest, nicht vor dem Betroffenen verborgen werden können, schwerwiegend in Grundrechte eingreifen und daher in gerichtlichen Verfahren angeordnet und umgehend überprüft werden müssen, um den anhaltenden Grundrechtseingriff eventuell zu beenden (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Januar 2006, a.a.O., S. 1049).
Auch eine Durchsuchung der Wohnung greift in die grundrechtlich geschützte (Art. 13 Abs. 1 GG) persönliche Lebenssphäre schwerwiegend ein (vgl. BVerfGE 51, 97 ≪107≫; 96, 27 ≪40≫; 103, 142 ≪151≫). Der Eingriff dauert aber während des Laufs des Beschwerdeverfahrens nicht mehr an. Das Beschwerdeverfahren dient hier der nachträglichen Überprüfung eines beendeten Eingriffs in Grundrechte des Betroffenen, nicht der Beendigung eines während des Verfahrens noch fortdauernden Eingriffs. Das öffentliche Interesse, weiter im Verborgenen zu ermitteln, kann daher mit dem Rechtsschutzinteresse des Betroffenen dadurch zum Ausgleich gebracht werden, dass die Beschwerdeentscheidung nicht ergeht, bevor die aus sachlichen Gründen zunächst verwehrte Akteneinsicht gewährt wurde und der Beschwerdeführer sich äußern konnte. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) wird dadurch nicht verletzt. Der Beschwerdeführer hat Anspruch auf eine angemessen zügige Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des beendeten Grundrechtseingriffs; diesem Feststellungsinteresse muss aber nicht mit gleicher Eilbedürftigkeit nachgekommen werden wie dem Anfechtungsbegehren, das sich gegen einen fortdauernden Eingriff richtet. Das Geheimhaltungsinteresse der Strafverfolgungsbehörden kann ein sachgerechter Verzögerungsgrund sein.
2. Nach diesen Maßstäben verletzen die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts das grundrechtsgleiche Recht des Beschwerdeführers aus Art. 103 Abs. 1 GG.
Der Beschwerdeführer konnte bis zur letzten Entscheidung im Beschwerdeverfahren nicht die von den Fachgerichten ausgewerteten Akten einsehen, und er konnte sich zu den Beweisgrundlagen der Entscheidungen nicht äußern. Eine genaue Beschreibung der vorgeworfenen Tat und der auf die Täterschaft des Beschuldigten hinweisenden Indizien oder Beweismittel in den Gründen einer im Ermittlungsverfahren ergehenden Gerichtsentscheidung kann die Akteneinsicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs nicht ersetzen. Die Akteneinsicht muss dem Beschuldigten auch dazu dienen können zu überprüfen, ob die bezeichneten Beweismittel vollständig und richtig verwendet und beschrieben wurden und ob ihre vom befassten Gericht dargelegte Bewertung und Einordnung in den sachlichen und rechtlichen Zusammenhang überzeugt oder andere Deutungen näher liegen. Dazu müssen dem Beschuldigten die Beweismittel auf die gleiche Art und Weise zugänglich und anschaulich sein wie dem Richter (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Januar 2006, a.a.O., S. 1049).
Wenn die Versagung der Akteneinsicht in der Vorschrift des § 147 Abs. 2 StPO eine Stütze fand und das Beschwerdegericht an die Entscheidung der Staatsanwaltschaft nach § 147 Abs. 5 StPO gebunden war, dann hätte es daraus den Schluss ziehen müssen, die Entscheidung über die Beschwerde aufzuschieben. Das Landgericht hat dies abgelehnt und dazu mitgeteilt, dass “das Ermittlungsverfahren zeitnahe Entscheidungen erfordert”. Es erläutert aber nicht, weshalb die Überprüfung der Rechtmäßigkeit eines abgeschlossenen Grundrechtseingriffes keinerlei Aufschub geduldet hätte. Da nicht einem fortdauernden Eingriff abzuhelfen war, hätte eine Verzögerung überzeugend dadurch gerechtfertigt werden können, dass eine Entscheidung nach Einhalten aller Verfahrensgarantien einer schnellen Entscheidung unter Verzicht auf solche Garantien vorzuziehen ist.
IV.
Die Verletzung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) durch das Landgericht führt zur Aufhebung der im Beschwerdeverfahren ergangenen Beschlüsse und zur Zurückverweisung an das Landgericht (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Die Durchsuchungsanordnung des Amtsgerichts hat der Beschwerdeführer mit seiner Verfassungsbeschwerde ausdrücklich nicht angegriffen. Ob sie den an sie zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt, hat nun das Landgericht bei der Wiederholung des Beschwerdeverfahrens unter Beachtung des Art. 103 Abs. 1 GG zu prüfen.
V.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Broß, Osterloh, Mellinghoff
Fundstellen
Haufe-Index 1672814 |
NStZ 2007, 274 |
NPA 2008 |