Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlange Verfahrensdauer als Grundrechtsverletzung
Leitsatz (redaktionell)
Das Gebot des effektiven Rechtsschutzes verlangt, dass strittige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit geklärt werden. Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist jedoch nach den besonderen Umständen des einzelnen Falls zu bestimmen, so dass sich nicht generell festlegen lässt, ab wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert (hier mehr als 10 Jahre noch angemessen).
Normenkette
GG Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3, Art. 2 Abs. 1; FGO § 74
Verfahrensgang
Gründe
Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine überlange Dauer des Revisionsverfahrens beim Bundesfinanzhof sowie zugleich die unzureichende steuerliche Berücksichtigung seiner kindbedingten Kosten in den Jahren 1986 und 1987.
Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde kommt weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG), noch ist deren Annahme zur Durchsetzung der in §.90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (BVerfGE 90, 22 ≪25 f.≫).
Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil die Beschwerdebegründung nicht entsprechend den Anforderungen der §§ 23 Abs. 1 Satz 2, 92 BVerfGG ausreichend substantiiert und schlüssig die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung durch die angegriffene finanzgerichtliche Entscheidung aufzeigt (vgl. z.B. BVerfGE 28, 17 ≪19≫; 99, 84 ≪87≫).
1. Soweit der Beschwerdeführer auf Grund der über zehn Jahre dauernden Entscheidung des Bundesfinanzhofs, nämlich von der Zulassung der Revision am 6. September 1990 bis zur Zurückweisung der Revision am 22. Februar 2001, eine – überlange – Verfahrensdauer geltend macht, bildet das aus Art. 19 Abs. 4 GG und aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitete Gebot effektiven Rechtsschutzes den verfassungsrechtlichen Maßstab. Dieses Gebot verlangt, dass strittige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit geklärt werden (vgl. BVerfGE 55, 349 ≪369≫; 88, 118 ≪124≫). Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist jedoch nach den besonderen Umständen des einzelnen Falls zu bestimmen, so dass sich nicht generell festlegen lässt, ab wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert. Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung dieser Frage sind vielmehr stets alle Umstände des Einzelfalls, insbesondere die Bedeutung der Sache für die Parteien, die Schwierigkeit der Sachmaterie sowie die gerichtlich nicht zu beeinflussenden Tätigkeiten von Dritten, wie etwa Sachverständigen, einzubeziehen (vgl. Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Juli 2000 – 1 BvR 352/00 –, EuGRZ 2000, S. 491 ≪492≫).
Trotz der hier erheblichen Dauer des Revisionsverfahrens wäre in der Verfassungsbeschwerde im Einzelnen darzulegen gewesen, dass die Dauer des Verfahrens für den Beschwerdeführer verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbar war_ Aus dem Vortrag des Beschwerdeführers werden die Umstände des konkreten Falls nicht ersichtlich. Insbesondere fehlen Hinweise auf die Ursachen für die lange Verfahrensdauer, und der Beschwerdeführer hat vor allem nicht dargetan, weshalb eine maßgebliche Mitverantwortung seinerseits ausscheidet. Hintergrund der langen Verfahrensdauer könnte gewesen sein, dass hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Frage der ausreichenden steuerlichen Berücksichtigung kindbedingter Kosten – um die es dem Kläger allein ging – bereits verschiedene Verfahren beim Bundesverfassungsgericht anhängig waren. Der Beschwerdeführer führt aber nicht aus, ob das Gericht etwa das Verfahren gemäß § 74 FGO ausgesetzt hat – und er damit einverstanden war oder dagegen Widerspruch eingelegt hat – oder ob z.B. für ihn gar nicht erkennbar war, warum die tatsächlich äußerst lange Verfahrensdauer entstanden ist. Er weist zwar auf drei der Verfassungsbeschwerde beigefügte Schreiben hin, zwei von 1996 und eins von 2000, in denen er den Bundesfinanzhof auf die Dauer des Verfahrens hinweist und eine zügige Entscheidung anmahnt; es wird aber nicht erkennbar, ob und wie der Bundesfinanzhof ihm gegenüber auf die Hinweise reagiert hat.
2. Der Beschwerdeführer hat auch nicht dargetan, inwiefern er nach Abschluss des Verfahrens beim Bundesfinanzhof, also nach Erledigung der Beschwer, noch ein Rechtsschutzbedürfnis hat, durch das Bundesverfassungsgericht feststellen zu lassen, in seinem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz verletzt zu sein.
Trotz Aufhebung der grundrechtsverletzenden Maßnahme oder nach Beendigung der Grundrechtsverletzung besteht ein Rechtsschutzbedürfnis nur unter besonderen Umständen, etwa dann, wenn die Beeinträchtigung sich auf eine Zeitspanne beschränkt, in der nach regelmäßigem Geschäftsgang eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kaum erlangt werden kann (vgl. BverfGE 34, 165 ≪180≫; 74, 163 ≪172 f.≫; 81, 138 ≪140 f.≫), wenn die beeinträchtigenden Wirkungen andauern (vgl. BVerfGE 15, 226 ≪230≫; 84, 212 ≪223≫; 85, 36 ≪53≫), wenn eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist (vgl. BVerfGE 52, 42 ≪51 f.≫; 56, 99 ≪106≫; 83, 341 ≪352≫; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Mai 1988 – 1 BvR 273/88 –, BB 1988, S. 1716) oder wenn z.B. der Beschwerdeführer im Vertrauen auf eine baldige Entscheidung Investitionen getätigt hat (so Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Mai 1988 – 1 BvR 273/88 –, BB 1988, S. 1716).
Im vorliegenden Fall ist nicht ersichtlich, inwieweit der Beschwerdeführer durch die Verfahrensdauer nunmehr – nach Abschluss des Verfahrens – noch belastet sein soll und was er im Ergebnis begehrt. Ein (bleibender) Nachteil (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 29. April 1981 – 2 BvR 348/81 –, EuGRZ 1982, S. 75 f.) ist nicht gerügt. Es sind keine Anhaltspunkte gegeben, dass die Entscheidung des Bundesfinanzhofs inhaltlich auf der langen Verfahrensdauer beruhte.
Soweit der Beschwerdeführer zugleich die unzureichende steuerliche Berücksichtigung seiner kindbedingten Kosten in den Jahren 1986 und 1987 rügt, ist die Verfassungsbeschwerde schon mangels Substantiierung unzulässig.
Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen
NVwZ-RR 2004, 2 |
www.judicialis.de 2003 |