Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzlicher Richter. Parteifähigkeit einer Personengesellschaft
Leitsatz (amtlich)
Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gebietet nur, daß die Person der zur Entscheidung im Einzelfall berufenen Richter auf Grund von allgemeinen Regeln im voraus so eindeutig wie möglich feststeht. Die Vorschrift fordert hingegen nicht, daß auch die Zahl der erkennenden Richter stets unverändert bleibt.
Leitsatz (redaktionell)
1. Eine Kommanditgesellschaft ist antragsberechtigt. Sie ist im Verfassungsbeschwerdeverfahren parteifähig, weil sie in dem vorausgegangenen Verfahren vor den Finanzgerichten parteifähig war (§§ 124 Abs. 1, 161 Abs. 2 HGB) und ausschließlich die Verletzung des prozessualen Grundrechts des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG rügt. Das Recht auf den gesetzlichen Richter steht jeder Personenvereinigung zu, die nach den maßgebenden Vorschriften in einem Gerichtsverfahren Partei sein kann.
2. Gesetzlicher Richter ist nicht nur das Gericht als organisatorische Einheit oder das erkennende Gericht als Spruchkörper, vor dem verhandelt und von dem die einzelne Sache entschieden wird, sondern sind auch die zur Entscheidung im Einzelfall berufenen Richter.
Normenkette
GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; HGB § 124 Abs. 1, § 161 Abs. 2; AO § 52 Abs. 3
Verfahrensgang
BFH (Urteil vom 20.03.1958; Aktenzeichen V 64/57) |
Gründe
A. – I.
Der Bundesfinanzhof – V. Senat – hob mit Urteil vom 20. März 1958 in einer Umsatzsteuersache ein der Beschwerdeführerin günstiges Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf auf und wies die Sprungberufung gegen einen Steuerbescheid des Finanzamts Krefeld zurück.
Nach dem Geschäftsverteilungsplan des Bundesfinanzhofs für das Jahr 1958 waren dem V. Senat zehn Richter einschließlich des Vorsitzenden als ständige Mitglieder zugeteilt. An der Entscheidung vom 20. März 1958 wirkten sämtliche Mitglieder des Senats mit.
Mit der Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Bundesfinanzhofs rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Zur Begründung trägt sie vor:
Sie sei dadurch ihrem gesetzlichen Richter entzogen worden, daß der V. Senat des Bundesfinanzhofs die angefochtene Entscheidung in der unzulässigen Besetzung mit zehn Richtern gefällt habe. Die Verordnung des Reichspräsidenten vom 1. Dezember 1930 habe zwar § 32 AO a.F. geändert und bestimmt, daß die Senate des Reichsfinanzhofs (– jetzt des Bundesfinanzhofs –) in Verfahren über Rechtsbeschwerden nicht wie bis dahin in der Besetzung von fünf Mitgliedern, sondern nunmehr in der Besetzung von „wenigstens” fünf Mitgliedern entscheiden. Durch die Änderung habe die Zahl der Richter, die nach dem Gesetz an einer Entscheidung eines Senats mitzuwirken hätten, jedoch nicht erhöht werden sollen. Mit Rücksicht auf die Stetigkeit der Rechtsprechung sei es auch nicht beabsichtigt gewesen zuzulassen, daß die Senate mit einer beliebig veränderlichen Richterzahl Recht sprechen. Zwar sei es unbedenklich, wenn das Gerichtspräsidium durch den Geschäftsverteilungsplan einem Senat mehr als fünf Richter zuteile; geschehe dies, dann müsse die Geschäftsordnung des Gerichts aber dafür Sorge tragen, daß er als Spruchkörper mit einer gleichbleibenden Richterzahl tätig werde. Wenn jedoch die Zahl der bei einer Entscheidung mitwirkenden Richter nicht für alle Fälle absolut feststehe und somit die Mehrheitsverhältnisse im Senat von der Zahl der gerade anwesenden Richter abhingen, sei der gesetzliche Richter nicht gewährleistet.
Die Beschwerdeführerin sei aber auch bereits dadurch ihrem gesetzlichen Richter entzogen worden, daß dem V. Senat durch die Geschäftsverteilung des Bundesfinanzhofs für das Jahr 1958 zehn Richter zugeteilt gewesen seien. Wenn das Gesetz zwar die Mindestzahl von fünf Richtern, aber nicht eine Höchstzahl vorschreibe, so könne jedenfalls eine Verdoppelung der Mindestzahl nicht als zulässig angesehen werden. Andernfalls müsse auch ein Mehrfaches von fünf Richtern als ordnungsgemäße Besetzung zulässig sein. Nach dem jetzt geltenden § 52 Abs. 3 Satz 1 AO könne jedenfalls eine Zuteilung von zehn Richtern an einen Senat nicht zulässig sein, da der Senat bei zehn Richtern in zwei voneinander verschiedenen Sitzgruppen Recht sprechen könne. Infolge der zu großen Überbesetzung sei der Vorsitzende auch nicht mehr in der Lage gewesen, einen richtunggebenden Einfluß auf die Rechtsprechung des Senats auszuüben.
Schließlich sei die Regelung des § 52 Abs. 3 Satz 1 AO in sich verfassungswidrig. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verlange, daß das Gesetz für Kollegialgerichte die Zahl der entscheidenden Richter festlege. § 52 Abs. 1 AO entspreche dieser Vorschrift nicht. In den anderen Zweigen der Gerichtsbarkeit sei für alle Instanzen die Zahl der Richter, die an den Entscheidungen teilnehmen müßten, gesetzlich bestimmt.
II.
1. Der Bundesminister der Finanzen hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Er führt aus:
Die Regelung des § 52 Abs. 3 Satz 1 AO sei nicht verfassungswidrig. Sie sehe die Zahl der Richter vor, die bei der Rechtsprechung eines Senats tätig werden könnten. Wie sich aus der Begründung der Regierungsvorlage zur Änderung des § 52 Abs. 3 AO (§ 32 Abs. 3 AO a.F.) vom 28. November 1928 (RT-Drucks. 1928 Nr. 586 S. 210) ergebe, seien grundsätzlich alle dem Senat zugeteilten Mitglieder zur Mitwirkung bei allen Entscheidungen berufen, falls nicht ein Hinderungsgrund vorliege.
Das Präsidium des Bundesfinanzhofs bestimme gemäß § 59 Abs. 1 AO vor Beginn des Geschäftsjahres die ständigen Mitglieder der Senate. Es stehe daher in jedem Falle im voraus auf Grund einer allgemeinen Regel fest, welche Richter im Einzelfall zuständig seien. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG fordere nicht, daß die endgültige Besetzung der Senate unmittelbar und allein aus dem Gesetz hervorgehe. Es sei vielmehr zulässig und ausreichend, wenn die auf Grund des Gesetzes ergangenen Geschäftsverteilungspläne den zuständigen Richter im voraus näher bestimmten. Gesetzlicher Richter im Ausgangsverfahren sei also der V. Senat des Bundesfinanzhofs in der Besetzung mit sämtlichen zehn Richtern gewesen.
Dem V. Senat seien zunächst fünf, seit 1952 sieben, seit 1955 acht und seit 1957 zehn Mitglieder zugeteilt gewesen. Am 1. Oktober 1958 sei der Senat geteilt und der VII. Senat neu gebildet worden. Diese Entwicklung sei darauf zurückzuführen, daß die Zahl der zur Zuständigkeit des V. Senats gehörenden Zollsachen zunächst gering gewesen sei und nur langsam infolge des sich allmählich entwickelnden Außenhandels der Bundesrepublik zugenommen habe. Die Einrichtung eines Senats für Zollsachen habe daher zunächst nicht verantwortet werden können. Im übrigen seien Schwankungen in der Zahl der erkennenden Richter des V. Senats nur durch Krankheit oder Beurlaubung einzelner Richter eingetreten. Die von der Beschwerdeführerin beanstandete Regelung stelle somit keine willkürliche, sondern eine sachgerechte Maßnahme der Geschäftsverteilung dar.
Bedenken gegen die Art und Weise der Besetzung der Senate könnten auch nicht daraus hergeleitet werden, daß die Zahl der in einem Senat als Spruchkörper tätigen Richter wegen Beurlaubung oder Erkrankung einzelner Mitglieder schwanken könne. Eine solche Regelung sei der Rechtsordnung nicht unbekannt; § 15 Abs. 2 BVerfGG regle einen entsprechenden Fall.
2. Der Bundesfinanzhof hat mitgeteilt, die mit mehr als vier ständigen Beisitzern besetzten Senate hätten ihre Entscheidungen, abgesehen vom Falle der Verhinderung eines Richters, jeweils in der Besetzung mit allen dem jeweiligen Senat ständig zugeteilten Richtern getroffen.
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
Die Beschwerdeführerin als Kommanditgesellschaft ist antragsberechtigt. Sie ist im Verfassungsbeschwerdeverfahren parteifähig, weil sie in dem vorausgegangenen Verfahren vor den Finanzgerichten parteifähig war (§§ 124 Abs. 1, 161 Abs. 2 HGB) und ausschließlich die Verletzung des prozessualen Grundrechts des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG rügt. Das Recht auf den gesetzlichen Richter steht jeder Personenvereinigung zu, die nach den maßgebenden Vorschriften in einem Gerichtsverfahren Partei sein kann (BVerfGE 3, 359 [363]).
C.
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht begründet.
I.
1. Ursprünglich trafen die Senate des Reichsfinanzhofs ihre Entscheidungen durch eine gesetzlich festgelegte Zahl von Richtern. § 32 Abs. 3 der Reichsabgabenordnung vom 13. Dezember 1919 (RGBl. S. 1993) – AO – lautete:
Als Spruchbehörden entscheiden die Senate des Reichsfinanzhofs in der Besetzung von fünf Mitgliedern einschließlich des Vorsitzenden. Im Beschlußverfahren entscheiden sie, soweit nichts anderes vorgeschrieben ist, in der Besetzung von drei Mitgliedern einschließlich des Vorsitzenden.
Die auf Grund des Art. 48 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung erlassene Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen vom 1. Dezember 1930 (RGBl. I S. 517) änderte diese Vorschrift wie folgt:
Als Spruchbehörden entscheiden die Senate des Reichsfinanzhofs in der Besetzung von wenigstens fünf Mitgliedern einschließlich des Vorsitzenden. Im Beschlußverfahren entscheiden sie in der Besetzung von wenigstens drei Mitgliedern einschließlich des Vorsitzenden. Bei Stimmengleichheit wird die Stimme des dem Dienstalter nach und bei gleichem Dienstalter der Geburt nach jüngsten Mitglieds nicht mitgezählt; der Berichterstatter hat jedoch immer Stimmrecht.
Diese Änderung ging auf eine Anregung des Reichsfinanzhofs zurück (vgl. Zitzlaff, FR 1956, 3 und Fritsch, FR 1959, 26, Fußnote 4). Die obengenannte Verordnung des Reichspräsidenten enthielt im Dritten Teil Kapitel IV Artikel 5 § 4 (RGBl. I S. 580) eine Ermächtigung an den Reichsfinanzminister, die Reichsabgabenordnung unter Beseitigung von Unstimmigkeiten, unter Änderungen der Fassung und neuer Paragraphenfolge neu bekanntzumachen. In der daraufhin vom Reichsfinanzminister bekanntgegebenen neuen Fassung der Reichsabgabenordnung, des Reichsbewertungsgesetzes und des Vermögensteuergesetzes vom 22. Mai 1931 (RGBl. I S. 161) erhielt die Vorschrift als § 52 Abs. 3 AO ihre bis heute geltende Fassung:
Im Verfahren über Rechtsbeschwerden entscheiden die Senate des Reichsfinanzhofs in der Besetzung von wenigstens fünf Mitgliedern einschließlich des Vorsitzenden. Im Beschlußverfahren entscheiden sie in der Besetzung von wenigstens drei Mitgliedern einschließlich des Vorsitzenden. Bei Stimmengleichheit wird die Stimme des dem Dienstalter nach und bei gleichem Dienstalter der Geburt nach jüngsten Rates nicht mitgezählt; der Berichterstatter hat jedoch immer Stimmrecht.
Die Amtliche Begründung zu dem Entwurf eines Gesetzes über die Vereinheitlichung des Verfahrens in Steuersachen und über die Anpassung der Reichssteuergesetze (Steueranpassungsgesetz) vom 28. November 1928 (RT-Drucks. 1928 Nr. 568 S. 189 [210]) führt über Sinn und Zweck der Neufassung des § 52 Abs. 3 AO aus:
„…Es besteht allseitige Übereinstimmung darüber, daß es ein Fehler ist, wenn man die Senate der höchsten Gerichte mit einer zu geringen Zahl von Mitgliedern besetzt… Schreibt das Gesetz für die Senate der höchsten Gerichte eine zu geringe Besetzung vor, so hat dies nicht etwa eine Ersparnis an Richtern zur Folge, führt vielmehr dazu, daß bei den einzelnen zu entscheidenden Sachen immer nur ein Teil der Richter mitwirkt, die nach dem Geschäftsverteilungsplan dem erkennenden Senate angehören. So sind die beim Reichsfinanzhof bestehenden 5 Senate ausnahmslos mit 7 oder mehr Mitgliedern besetzt, von denen jedoch bei den einzelnen Spruchsachen immer nur 5 und bei den einzelnen Beschlußsachen immer nur 3 mitwirken. Die Folge davon ist, daß der Vorsitzende des Senats, dem nach § 42 der Reichsabgabenordnung für die einzelnen Sachen die Bestellung des Berichterstatters und des Gegenberichterstatters obliegt, hierdurch die Besetzung des Gerichts in den einzelnen Streitfällen bestimmt. Dies widerspricht dem Grundgedanken, auf dem die Organisation der höchsten Gerichte beruht, nämlich dem Gedanken, daß es nicht angeht, die Zusammensetzung des Gerichts von Fall zu Fall zu bestimmen, daß vielmehr die Zusammensetzung jeweils für ein Geschäftsjahr im voraus durch das Präsidium des Gerichts bestimmt wird. Eine zu schwache und ständig wechselnde Besetzung der Senate ist aber auch unzweckmäßig, weil durch eine gleichbleibende Besetzung der Senate eine größere Stetigkeit der Rechtsprechung gewährleistet wird… Wird der § 32 Abs. 3 in diesem Sinne geändert, so wird dadurch die Geschäftsverteilung, die nach § 39 Abs. 1 Satz 1 der Reichsabgabenordnung das Präsidium des Reichsfinanzhofs alljährlich vor Beginn eines jeden Geschäftsjahres vorzunehmen hat, erhöhte Bedeutung gewinnen: Wer vom Präsidium zum Mitglied eines Senates bestellt worden ist, wirkt bei den sämtlichen vom Senat zu entscheidenden Sachen mit, sofern er nicht aus irgendwelchen Gründen (z.B. infolge Erkrankung oder Beurlaubung) an der Mitwirkung verhindert ist…”
Der Reichsfinanzhof hat allerdings trotz der Rechtsänderung in seiner Praxis grundsätzlich an der Besetzung der erkennenden Senate mit einer festen Zahl von fünf oder drei Richtern festgehalten, auch wenn den Senaten durch die Geschäftsverteilungspläne mehr als fünf Richter zugeteilt waren. § 2 Abs. 4 der Geschäftsordnung des Reichsfinanzhofs vom 29. Mai 1920 (Zentralblatt für das Deutsche Reich S. 861), der regelte, welche fünf Mitglieder eines überbesetzten Senats an einer Entscheidung mitzuwirken hatten, blieb zunächst unverändert bestehen und erhielt schließlich durch Beschluß des Reichsfinanzhofs vom 26. August 1943 (RMinBl. S. 92) folgende Fassung:
Besteht ein Senat aus mehr als fünf Mitgliedern, so wird die Entscheidung vom Vorsitzenden, von den Berichterstattern und zwei in regelmäßigem Wechsel zu bestimmenden Mitgliedern, im Beschlußverfahren vom Vorsitzenden und von den Berichterstattern gefällt und unterzeichnet.
Der Bundesfinanzhof hingegen verstand und versteht seit seiner Gründung die Vorschrift des § 52 Abs. 3 AO dahin, daß in Rechtsbeschwerdesachen sämtliche dem jeweiligen Senat zugeteilten ständigen Mitglieder bei allen Entscheidungen mitwirken müssen, soweit sie nicht durch Krankheit, Urlaub oder aus sonstigem wichtigen Grunde verhindert sind. Allerdings enthalten weder die Geschäftsordnung des Bundesfinanzhofs vom 22. November 1957 (BAnz. Nr. 229 S. 1) noch die Geschäftsverteilungspläne des Bundesfinanzhofs für die Jahre 1957 und 1958 ausdrückliche Bestimmungen darüber, nach welchen Grundsätzen in einem überbesetzten Senat zu verfahren ist. Die Geschäftsordnung trifft aber in § 10 Abs. 2 entsprechend § 52 Abs. 3 Satz 3 AO für den Fall der Stimmengleichheit eine Regelung, geht also davon aus, daß mehr als fünf Richter an der Beschlußfassung beteiligt sein können.
2. Wortlaut und Entstehungsgeschichte des § 52 Abs. 3 AO ergeben, daß das Gesetz die Zahl der Richter, die an einer Entscheidung mitzuwirken haben, nur durch eine Mindestzahl begrenzt, sie im übrigen aber offenläßt. Diese Auslegung wird bestätigt durch die ständige Praxis des Bundesfinanzhofs und die einhellige Auffassung in der Literatur (vgl. Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, 5. Aufl., § 52 Anm. II; Berger, Der Steuerprozeß, 1954, S. 73; Hoffmann, NJW 1956, 972 (975); Wacke, FR 1957, 337; Hessdörfer, FR 1957, 377; Zitzlaff, FR 1956, 2). Die Ansicht der Beschwerdeführerin, die Neufassung des § 52 Abs. 3 AO habe nicht die Möglichkeit eröffnen sollen, daß ein Senat mit mehr als fünf Richtern entscheidet, sei mit Sinn und Wortlaut der Änderung nicht zu vereinbaren. Gegen sie spricht vor allem die Vorschrift des § 53 Abs. 3 Satz 2 AO, die eine Regelung für den Fall trifft, daß bei der Abstimmung Stimmengleichheit eintritt. Die Beschwerdeführerin ist also nicht etwa dadurch ihrem gesetzlichen Richter entzogen worden, daß der V. Senat des Bundesfinanzhofs mit einer § 52 Abs. 3 AO widersprechenden Anzahl von Richtern entschieden hätte.
II.
§ 52 Abs. 3 AO ist nicht verfassungswidrig.
1. Gesetzlicher Richter ist zwar nicht nur das Gericht als organisatorische Einheit oder das erkennende Gericht als Spruchkörper, vor dem verhandelt und von dem die einzelne Sache entschieden wird, sondern sind auch die zur Entscheidung im Einzelfall berufenen Richter. Wer im Einzelfall zum Richter berufen ist, muß sich möglichst eindeutig aus von vornherein festgelegten Normen ergeben, aus den gesetzlichen Bestimmungen über die Gerichtsverfassung, den Prozeßordnungen und den Geschäftsverteilungsplänen (BVerfGE 4, 412 [416]; 6, 45 [51]; 9, 223 [226]; 17, 294 [298 f.]; 18, 65 [69]; 18, 344 [349]). Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG setzt also einen Bestand von Rechtssätzen voraus, die für jeden denkbaren Streitfall im voraus den Richter bezeichnen, der zur Entscheidung zuständig ist (BVerfGE 2, 307 [320]). Daraus folgt indessen nicht, daß der Gesetzgeber den gesetzlichen Richter stets endgültig bestimmen muß (BVerfGE 9, 223 [226]). Es ist nicht möglich, in einem formellen Gesetz eine Regelung zu treffen, aus der sich ohne weiteres für jeden Einzelfall ergibt, welche Richter zur Entscheidung berufen sind. Das Gesetz findet seine notwendige Ergänzung in den Geschäftsordnungen und den Geschäftsverteilungsplänen der Gerichte. Die fundamentalen Zuständigkeitsregeln müssen aber vom Gesetzgeber gegeben werden. Insoweit enthält Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG einen Auftrag an den Gesetzgeber und zugleich einen Vorbehalt des förmlichen Gesetzes (BVerfGE 2, 307 [319 f.]; Bettermann in Bettermann-Nipperdey-Scheuner, Die Grundrechte, 3. Band, 2. Halbband S. 566).
2. § 52 Abs.3 AO geht von der durch die Erfahrung bestätigten Tatsache aus, daß bei den Senaten des Bundesfinanzhofs im Interesse des reibungslosen Geschäftsablaufs und im Hinblick auf die in der Finanzgerichtsbarkeit besonders schwer voraussehbare Geschäftsentwicklung eine Überbesetzung notwendig würde, wenn sie in Spruchsachen stets mit fünf Mitgliedern zu entscheiden hätten. Die Bestimmung will die Schwierigkeiten lösen, die mit der Tatsache der unvermeidbaren Überbesetzung der Kollegialgerichte stets verbunden sind. Sie bestehen zum Teil darin, daß ein Manipulieren der Zusammensetzung des Gerichts verhütet werden muß, soweit dies durch allgemeine Regeln möglich ist. Dazu bieten sich verschiedene Möglichkeiten an, die mit der Vorschrift des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in Einklang stehen (vgl. auch BVerfGE 18, 344 [349 ff.]). So wäre es mit dem Grundgesetz vereinbar, wenn das Gesetz eine bestimmte Mitgliederzahl für die Senate vorgeschrieben und für den Fall der Verhinderung eines oder mehrerer Gerichtsmitglieder die Beschlußfähigkeit eines Senats an eine Mindestzahl der mitwirkenden Richter (Quorum) gebunden hätte. § 52 Abs. 3 AO setzt der Sache nach ein Quorum fest, ohne zu regeln, wie viele Richter einem Senat zugeteilt werden dürfen. Die Vorschrift überläßt diese Regelung dem Gerichtspräsidium, das im Geschäftsverteilungsplan die Richter auf die einzelnen Senate zu verteilen hat. Diese Lösung ist gewiß nicht vollkommen; sie verstieße aber nur dann gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wenn der Gesetzgeber verpflichtet wäre, neben dem Quorum auch die Zahl der Richter zu bestimmen, die in der Regel an den Entscheidungen des Senats mitzuwirken haben. Das ist aber nicht der Fall.
Beim Bundesfinanzhof sind die Senate jeweils für bestimmte Sachgebiete zuständig. Es kann im Interesse einer einheitlichen Rechtsprechung liegen, bestimmte Sachgebiete nicht zu trennen und sie einem Senat zuzuteilen. Darum kann es sachgerecht sein, Senate mit verschiedener Richterzahl zu bilden. Die Zahl der Verfahren aus den einzelnen Sachgebieten läßt sich nicht mit Sicherheit übersehen, da sie gerade im Steuerrecht sehr oft von der Entwicklung der Wirtschaft und der einem raschen Wandel unterliegenden Gesetzgebung auf dem Gebiete der Finanzen und Wirtschaft abhängt. Diese für die zahlenmäßige Besetzung eines Gerichts wesentlichen Veränderungen kann der Gesetzgeber nicht voraussehen. Es kann ihm deshalb nicht verwehrt werden, dem Gerichtspräsidium die Bestimmung der Zahl der Richter eines Senats unter Berücksichtigung des gesetzlich festgelegten Quorums zu überlassen. Dabei muß das Präsidium allerdings davon ausgehen, daß alle nicht verhinderten Richter des Spruchkörpers an den Entscheidungen teilzunehmen haben. § 52 Abs. 3 AO verstößt daher nicht deshalb gegen das Grundgesetz, weil nach dieser Vorschrift die Zahl der Richter, die einem Senat angehören und als Senat entscheiden, durch das Gerichtspräsidium unter Beachtung des vom Gesetz festgesetzten Quorums bestimmt wird.
3. Die von der Beschwerdeführerin befürchtete Möglichkeit der Einflußnahme des Bundesfinanzministers auf die jeweilige Besetzung der Senate gefährdet nicht das Recht auf den gesetzlichen Richter. Zwar bestimmt der Bundesminister der Finanzen nach § 57 Satz 2 AO die Zahl der beim Bundesfinanzhof zu bildenden Senate. Eine entsprechende Vorschrift findet sich in § 130 Abs. 1 Satz 2 GVG für den Bundesgerichtshof und in § 41 Abs. 3 ArbGG für das Bundesarbeitsgericht. Diese Einflußmöglichkeit auf die Gerichtsorganisation wird jedoch nach zwei Richtungen hin eingeschränkt. Die Planstellen für die Senatspräsidenten und für die Bundesrichter müssen im Haushaltsplan bewilligt werden. Nach § 59 AO obliegt es dem Präsidium des Bundesfinanzhofs, die Mitglieder des Gerichts den einzelnen Senaten zuzuteilen. Den entscheidenden Einfluß auf die Besetzung der Senate üben also die Organe aus, die nach der Rechtsordnung dazu berufen sind, „den gesetzlichen Richter” zu konkretisieren.
4. Die Regelung des § 52 Abs. 3 AO kann allerdings dazu führen, daß die Zahl der an einer Entscheidung mitwirkenden Richter von Fall zu Fall infolge von Verhinderung eines Senatsmitglieds verschieden ist. Das ist aber verfassungsrechtlich unbedenklich. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gebietet nur, daß die Person der zur Entscheidung im Einzelfall berufenen Richter auf Grund von allgemeinen Regeln im voraus so eindeutig wie möglich feststeht. Die Vorschrift fordert hingegen nicht, daß auch die Zahl der erkennenden Richter stets unverändert bleibt.
Die Gefahr, daß ein Richter sich durch Vortäuschung einer Verhinderung seiner richterlichen Aufgabe entzieht, ist bei der für den Bundesfinanzhof getroffenen Regelung ebenso groß oder gering wie bei anderen Gerichten. Bei einem Gericht, das nur mit einer feststehenden Zahl von Richtern entscheiden kann, muß anstelle des verhinderten Mitglieds sein Stellvertreter mitwirken. Das bedeutet keine größere Gewißheit über den „gesetzlichen Richter”, als wenn ein Senat bei Verhinderung eines Richters noch entscheiden kann, weil seine Besetzung dem Quorum entspricht.
5. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Regelung des Stimmrechts bei Stimmengleichheit (vgl. Wacke, FR 1957, 337) sind nicht begründet. Der Grundsatz in § 52 Abs. 3 Satz 2 AO, nach dem bei Stimmengleichheit in der Regel die Stimme des jüngsten Richters nicht mitgezählt wird, widerspricht nicht Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Daß sich dem Vorsitzenden durch die Bestimmung des Berichterstatters die Möglichkeit zu Manipulationen biete, weil die Stimme des Berichterstatters in jedem Fall mitgezählt wird, liegt im Bereich der entfernten Mißbrauchsmöglichkeiten, die nie ganz ausgeschlossen werden können.
III.
Die Beschwerdeführerin ist auch nicht durch Maßnahmen des Bundesfinanzhofs ihrem gesetzlichen Richter entzogen worden.
1. Die zur Mitwirkung bei der angefochtenen Entscheidung berufenen Richter waren durch den Geschäftsverteilungsplan des Bundesfinanzhofs hinreichend genau bestimmt. Der Bundesfinanzhof ist in seiner Praxis stets so verfahren, daß sämtliche einem Senat zugeteilten Mitglieder an allen Entscheidungen dieses Senats mitwirken, es sei denn, ein Mitglied sei verhindert. Dieses Verfahren entspricht dem Sinn des § 52 Abs. 3 AO. Nur eine solche Interpretation der Vorschrift ist mit Art. 101 Abs. 1 GG vereinbar.
2. Es widerspricht auch nicht der Bestimmung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, daß das Präsidium des Bundesfinanzhofs im Geschäftsjahr 1958 dem V. Senat zehn Richter zugeteilt hat.
Die Vorschrift begrenzt die Zahl der Richter, die im Spruchkörper eines Kollegialgerichts an einer Entscheidung teilnehmen können, nur in dem Sinne, daß das herkömmliche Bild eines Kollegialgerichts, wie es das Grundgesetz vorgefunden und in den Art. 92 und 96 Abs. 1 GG institutionalisiert hat, gewahrt bleiben muß. Die Besetzung eines Senats des Bundesfinanzhofs mit zehn Richtern hält sich gerade noch im Rahmen dieses Bildes.
Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Überbesetzung der Kammern und Senate der ordentlichen Gerichtsbarkeit (vgl. BVerfGE 17, 294 [301]; 18, 65 [70]; 18, 344 [350]) läßt sich auf den hier zu entscheidenden Fall nicht übertragen. Denn § 52 Abs. 3 AO schafft eine besondere Rechtslage. Eine Ermessensentscheidung des Vorsitzenden über die Besetzung der Richterbank läßt diese Bestimmung nicht zu, da alle einem Senat des Bundesfinanzhofs zugeteilten Richter an jeder Entscheidung des Spruchkörpers teilnehmen müssen. Damit entfällt die Möglichkeit, willkürlich zu manipulieren.
Es fehlt auch jeder Anhaltspunkt dafür, daß das Präsidium des Bundesfinanzhofs im Jahre 1958 dem V. Senat aus sachfremden Erwägungen zehn Richter zugeteilt hat. Die Richterzahl entsprach der damaligen überaus starken Belastung dieses Senats.
Fundstellen
Haufe-Index 1740440 |
BVerfGE, 52 |