Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewerbesteuer. Aussetzungszinsen. Abgabenvereinbarung. Erlaß von Aussetzungszinsen. Nichtigkeit des Erlaßbescheides. Vorbehalt der Nachprüfung. Nichtigkeit eines Nachprüfungsvorbehalts im Bescheid über Erlaß von Steuern. Ausübung des Vorbehalts. Vertrauensschutz. Grundsatz von Treu und Glauben
Leitsatz (amtlich)
Ein Bescheid über den (Teil)Erlaß von Aussetzungszinsen, dem keine Erwägungen über sachliche oder persönliche Billigkeitsgründe zugrunde liegen, sondern der als Gegenleistung für den Verzicht des Steuerpflichtigen auf Rechtsmittel gegen einen Grundlagenbescheid gewährt wird, ist rechtswidrig, aber nicht in jedem Falle unwirksam.
Die Gemeinde kann von einem bestandskräftig gewordenen Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 AO dann keinen Gebrauch machen, wenn der Vorbehalt nicht nur fehlerhaft ist, sondern jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt, weil § 164 AO auf derartige Verwaltungsakte – hier: Teilerlaß von Aussetzungszinsen – nach der Abgabenordnung nicht anwendbar ist.
Normenkette
AO § 125 Abs. 1, § 130 Abs. 2, § 164 Abs. 1-2, § 234 Abs. 2, § 237 Abs. 4; VwVfG § 44 Abs. 1
Verfahrensgang
VGH Baden-Württemberg (Urteil vom 23.11.1995; Aktenzeichen 2 S 2724/93) |
VG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 31.08.1993; Aktenzeichen 6 K 641/92) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 23. November 1995 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
I.
Die Klägerin wendet sich gegen einen Bescheid, mit dem der teilweise Erlaß von Aussetzungszinsen aufgehoben wurde.
Im Jahre 1974 veräußerten die Gesellschafter der Klägerin Wirtschaftsgüter ihres Gewerbebetriebs an eine andere Firma. Nicht mitveräußert wurden u. a. die Betriebsgrundstücke. In einem vorläufigen Feststellungsbescheid des Finanzamts Singen aus dem Jahre 1976 wurde der Gewinn aus der Veräußerung als nach §§ 16, 34 EStG begünstigter Veräußerungsgewinn behandelt. Davon abweichend wurde bei einer im Jahre 1978 erfolgten Betriebsprüfung die Veräußerung der Vermögensteile nicht als eine steuerbegünstigte Teilbetriebsveräußerung oder Betriebsaufgabe angesehen. Vielmehr ordnete das Finanzamt den Veräußerungsgewinn in vollem Umfang dem einkommensteuerlich nicht begünstigten und gewerbesteuerpflichtigen laufenden Gewinn zu. Mit endgültigem Feststellungsbescheid 1974 vom 22. März 1983 wurde ein erhöhter Gesamtgewinn für 1974 festgesetzt. Die dagegen von der Klägerin erhobene Klage wies das Finanzgericht Baden-Württemberg mit Urteil vom 26. Februar 1991 ab. Das der Klägerin am 19. März 1991 zugestellte Urteil wurde mit Ablauf des 19. April 1991 rechtskräftig.
Aufgrund des geänderten Feststellungsbescheides 1974 änderte das Finanzamt Singen mit Bescheid vom 19. Mai 1983 auch den Gewerbesteuermeßbescheid 1974 und setzte auf Antrag der Klägerin mit weiterem Bescheid vom 7. Juni 1983 die Vollziehung des Meßbetrages in Höhe von 185 675 DM aus.
Die beklagte Gemeinde erließ am 10. Mai 1983 einen Gewerbesteuer-Berichtigungsbescheid für 1974. Im Hinblick auf die Aussetzung der Vollziehung des Gewerbesteuermeßbescheides setzte die Beklagte mit Bescheid vom 13. September 1983 auch die Vollziehung des geänderten Gewerbesteuerbescheids 1974 in Höhe von 612 727,50 DM aus. In dem Bescheid wurde auf die gesetzlichen Regelungen über die Verzinsung ausgesetzter Steuerbeträge hingewiesen.
Nach Zustellung des finanzgerichtlichen Urteils vom 26. Februar 1991 wandte sich der Geschäftsführer der Klägerin mündlich an die Beklagte mit dem Vorschlag, er werde auf Rechtsmittel gegen das Urteil verzichten, wenn die Beklagte ihrerseits der Klägerin die Hälfte der Aussetzungszinsen erlasse.
In der Sitzungsvorlage für die Gemeinderatssitzung vom 16. April 1991 schlug die Finanzverwaltung – Steuern – der Beklagten unter Darlegung des geschuldeten Steuerbetrags (ausgesetzter Betrag: 612 757,50 DM; Aussetzungszinsen: 287 969 DM; zusammen 900 696,50 DM) vor, weder ganz noch teilweise auf die Erhebung von Aussetzungszinsen zu verzichten. In der Vorlage wurde im einzelnen dargelegt, daß weder die Voraussetzungen für einen Erlaß nach § 237 Abs. 4 AO vorlägen, noch die Beklagte befugt sei, einen Vergleichsvertrag nach §§ 54 ff. LVwVfG zu schließen. In der Gemeinderatssitzung vertrat der Vorsitzende demgegenüber die Ansicht, der Vorschlag des Geschäftsführers der Klägerin solle angenommen werden. Die Stadt brauche das Geld für andere Maßnahmen und müßte, wenn die Klägerin weitere Rechtsmittel einlegen sollte, mindestens noch 10 Jahre warten. Nach kontroverser Diskussion, in deren Verlauf der Vorschlag gemacht wurde, mit dem Geschäftsführer der Klägerin ”über eine Summe von 800 000 DM” zu verhandeln, wurde diesem Vorschlag mehrheitlich zugestimmt.
Über diesen Beschluß des Gemeinderats informierte der Oberbürgermeister der Beklagten die Klägerin noch am selben Tage telefonisch.
Nach Eintritt der Rechtskraft des finanzgerichtlichen Urteils hob die Beklagte mit Bescheid vom 16. Mai 1991 die bewilligte Aussetzung des Gewerbesteuerbescheides 1974 auf. Für die Dauer der Aussetzung wurden unter Hinweis auf § 237 AO Zinsen in Höhe von 291 032,50 DM festgesetzt. Weiter heißt es in dem Bescheid:
“Der Gemeinderat hat in seiner Sitzung am 16.04.1991 beschlossen, gemäß § 237 Abs. 4 i.V.m. § 234 Abs. 2 Abgabenordnung auf einen Teilbetrag der Aussetzungszinsen in Höhe von DM 100.000,– zu verzichten.
Demnach bitten wir innerhalb acht Tagen folgende Beträge an die Stadtkasse zu überweisen:
Gewerbesteuernachzahlung 1974 |
DM 612.727,50 |
Aussetzungszinsen (Teil) |
DM 191.032,50 |
gesamt |
DM 803.760,00 |
Dieser Bescheid ergeht hinsichtlich der Zinsanforderung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gemäß § 239 Abs. 1, § 164 Abgabenordnung.”
Dieser Bescheid wurde bestandskräftig. Aufgrund einer Vorlage der Finanzverwaltung – Steuern – vom Juni 1991 befaßte sich der Gemeinderat der Beklagten in seiner Sitzung vom 3. September 1991 erneut mit dem Teilerlaß der Aussetzungszinsen. In der Vorlage wurde darauf hingewiesen, daß das Regierungspräsidium Freiburg telefonisch mitgeteilt habe, daß der Gemeinderatsbeschluß vom 16. April 1991 rechtswidrig sei. Das Steuerrecht lasse den Erlaß von Aussetzungszinsen nur zu, wenn sachliche oder persönliche Billigkeitsgründe gegeben seien. Aus der Gemeinderatsvorlage vom 9. April 1991 gehe hervor, daß derartige Billigkeitsgründe nicht vorlägen.
Der Gemeinderat beschloß daraufhin auf Vorschlag der Verwaltung, seinen Beschluß vom 16. April 1991 aufzuheben und auf die Aussetzungszinsen weder ganz noch teilweise zu verzichten.
Mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 7. Oktober 1991 wurde der Bescheid der Beklagten vom 16. Mai 1991 unter Hinweis auf den Gemeinderatsbeschluß vom 3. September 1991 und unter Wiederholung der Zinsfestsetzung in Höhe von 291 032,50 DM dahingehend geändert, daß der noch ausstehende Teilbetrag von 100 000 DM zu überweisen sei. Die Änderung des Bescheides beruhe auf § 239 Abs. 1, § 164 Abs. 2 AO. Gleichzeitig wurde der Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben.
Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Bescheid vom 3. April 1992 zurück, auch die Anfechtungsklage blieb in erster Instanz erfolglos. Auf die Berufung der Klägerin hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg mit Urteil vom 23. November 1995 das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und den Bescheid der Beklagten vom 7. Oktober 1991 und deren Widerspruchsbescheid aufgehoben.
Zur Begründung hat das Berufungsgericht im wesentlichen ausgeführt:
Die Anforderung der Aussetzungszinsen in Höhe von 100 000 DM in dem angefochtenen Bescheid sei rechtswidrig, weil die Beklagte mit Bescheid vom 16. Mai 1991 wirksam auf diese Zinsen verzichtet habe und der Widerruf des Verzichts nach den einschlägigen Vorschriften der Abgabenordnung nicht zulässig sei.
Entgegen der Auffassung der Beklagten sei der Bescheid vom 16. Mai 1991 hinsichtlich des Teilverzichts nicht “nichtig”. Der Teilverzicht sei nicht offenkundig rechtswidrig. Er stütze sich auf eine Rechtsgrundlage (§ 237 Abs. 4 AO i.V.m. § 234 Abs. 2 AO), die die Behörde dazu ermächtige, auf Aussetzungszinsen ganz oder teilweise zu verzichten, wenn ihre Erhebung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Zwar liege dem Bescheid ein Sachverhalt zugrunde, in dem keine Gründe der Unbilligkeit im Sinne dieser Vorschriften gesehen werden könnten, der Anwendungsfehler sei aber nicht “offenkundig”. Der Geschäftsführer der Klägerin sei davon ausgegangen, daß der Teilverzicht von Aussetzungszinsen seitens der Beklagten ein gerechter Ausgleich für den Verzicht auf die Einlegung des gegen das Urteil des Finanzgerichts zulässigen Rechtsmittels sowie für die Bereitschaft zur sofortigen Bezahlung der strittigen Gewerbesteuern nebst Aussetzungszinsen in Höhe von insgesamt ca. 800 000 DM anzusehen und daß der Teilverzicht auf Aussetzungszinsen angesichts der besonderen Umstände des Falles (Beurteilung eines zunächst anders bewerteten Steuersachverhalts durch die Finanzbehörde zu Lasten der Klägerin mit der Folge einer Gewerbesteuernachforderung; finanzgerichtliches Verfahren mit einer Dauer von sieben bis acht Jahren und dementsprechend hohen Aussetzungszinsen) ohne Verstoß gegen Gesetze zulässig gewesen sei. Das Berufungsgericht folge auch nicht der Auffassung der Beklagten, daß der Bescheid über den Teilverzicht von Aussetzungszinsen deshalb nichtig sei, weil er zum Vollzug einer wegen Gesetzesverstoßes (Art. 20 Abs. 3 GG, § 85 AO) nichtigen Erlaßvereinbarung ergangen sei. Die Frage der Nichtigkeit des Bescheides als eines Verwaltungsakts beurteile sich allein nach § 125 AO, dessen Voraussetzungen aber nicht vorlägen.
Der demnach wirksame und bestandskräftig gewordene Bescheid vom 16. Mai 1991 habe auch nicht nach § 130 Abs. 2 AO zurückgenommen werden dürfen. Die Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts nach § 130 Abs. 2 AO lägen unstreitig nicht vor.
Die Zinsanforderung im Bescheid vom 16. Mai 1991 sei auch nicht wirksam unter den Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 2 Satz 1 AO) gestellt worden. Zwar habe der Bescheid vom 16. Mai 1991 einen Vorbehalt der Nachprüfung enthalten, diese Regelung sei jedoch nicht wirksam geworden, da sie an einem schweren, offenkundigen Fehler leide. Zwischen den Beteiligten sei unstreitig, daß die Regelung des Vorbehalts der Nachprüfung im Bescheid vom 16. Mai 1991 rechtswidrig sei. Einzige Voraussetzung für die Festsetzung der Steuern unter dem Vorbehalt der Nachprüfung sei nach § 164 Abs. 1 AO, daß der Steuerfall noch nicht abschließend geprüft sei. Die Behörde dürfe eine Vorbehaltsfestsetzung nicht trotz abschließender Prüfung vornehmen, nur um den Fall offenzuhalten. Von diesem Inhalt der Vorschrift sei die Vorbehaltsfestsetzung im angefochtenen Bescheid nicht gedeckt. Der für eine abschließende Prüfung notwendige Sachverhalt sei bekannt gewesen. Die Zinsen für die Aussetzung der Gewerbesteuernachforderung seien, da die zu verzinsende Steuer und die Zeiten der Aussetzung genau festgelegen hätten, ohne weitere Ermittlung feststellbar gewesen; sie hätten festgesetzt und angefordert werden können. Für die Festsetzung des Vorbehalts einer Nachprüfung habe daher kein Raum bestanden. Die Vorbehaltsfestsetzung habe entgegen dem Sinn der gesetzlichen Vorschriften nicht den Zweck verfolgt, die Zinsfestsetzung und -anforderung hinsichtlich ihrer tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen einer nochmaligen Prüfung zu unterziehen. Vielmehr sei die Vorbehaltsfestsetzung der Sache nach auf die Entscheidung des Gemeinderates über den Teilverzicht von Aussetzungszinsen bezogen gewesen. Bezüglich dieser in die Kompetenz des Gemeinderates fallenden Entscheidung habe die Gemeindeverwaltung aber kein Nachprüfungsrecht aus § 164 Abs. 1 AO ableiten können. In der Anwendung der Vorschrift auf einen vom Gesetz offensichtlich nicht vorgesehenen Fall sei ein besonders schwerwiegender Fehler im Sinne des § 125 Abs. 1 AO zu sehen, der auch im Sinne dieser Vorschrift offenkundig sei. Dem aufgeschlossenen Durchschnittsbetrachter sei erkennbar gewesen, daß es vorliegend an einem Grund für die Nachprüfung durch die Verwaltung im Sinne dieser Gesetzesvorschrift gefehlt habe. Es sei offensichtlich gewesen, daß nicht die Berechnung der Zinsen einer Nachprüfung habe vorbehalten werden sollen, sondern die Ermessensentscheidung des Gemeinderates über einen Teilverzicht.
Die Nichtigkeit des Vorbehalts der Nachprüfung habe jedoch nicht auch die Unwirksamkeit des Bescheides im übrigen zur Folge. Die (zu niedrige) Anforderung der Aussetzungszinsen wäre vielmehr auch dann erfolgt, wenn die Verwaltung beachtet hätte, daß der Bescheid nicht mit einem Vorbehalt der Nachprüfung hätte verbunden werden dürfen.
Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts.
Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil.
Der Oberbundesanwalt hält den angefochtenen Bescheid für rechtmäßig.
Entscheidungsgründe
II.
Die zulässige Revision ist unbegründet, weil das angefochtene Urteil jedenfalls im Ergebnis der Rechtslage entspricht. Der Bescheid der Beklagten vom 7. Oktober 1991 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Anforderung weiterer Aussetzungszinsen in Höhe von 100 000 DM steht der Teilerlaß der Zinsforderung durch den Bescheid vom 16. Mai 1991 entgegen. Dieser Bescheid ist weder nichtig (1.) noch durfte er nach § 130 AO (2.) oder nach § 164 Abs. 2 Satz 1 AO (3.) zurückgenommen bzw. aufgehoben werden.
1. Das Berufungsgericht hat zutreffend erkannt, daß der Bescheid der Beklagten vom 16. Mai 1991 über einen Teilerlaß von Aussetzungszinsen zwar rechtswidrig, aber entgegen der Auffassung der Beklagten und des Oberbundesanwalts nicht unwirksam ist.
Nach § 125 Abs. 1 AO – der hier gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 3 AO kraft Bundesrechts für die Erhebung der Gewerbesteuer als einer Realsteuer durch die beklagte Gemeinde Anwendung findet und daher entgegen der Ansicht der Klägerin in vollem Umfange der Überprüfung durch das Revisionsgericht nach § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO unterliegt – ist ein Verwaltungsakt nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Nach der übereinstimmenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesfinanzhofs ist die aus Rechtsmängeln abgeleitete Folge der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts stets als eine besondere Ausnahme von dem Grundsatz angesehen worden, daß ein Akt der staatlichen Gewalt die Vermutung seiner Gültigkeit in sich trage (vgl. Beschluß vom 21. Januar 1954 – BVerwG I B 49.53 – BVerwGE 1, 67 ≪69≫ und Urteil vom 11. Februar 1966 – BVerwG VII CB 149.64 – BVerwGE 23, 237 ≪238≫; BFH, Beschlüsse vom 1. Oktober 1981 – IV B 13/81 – BStBl II 1982 S. 133 ≪134 f.≫ und vom 30. November 1987 – VIII B 3/87 – BStBl II 1988 S. 183 ≪185≫). Besonders schwerwiegend im Sinne des § 125 Abs. 1 AO, der wörtlich mit der Regelung des § 44 Abs. 1 VwVfG übereinstimmt, ist daher nur ein Fehler, der den davon betroffenen Verwaltungsakt als schlechterdings unerträglich erscheinen, d.h. mit tragenden Verfassungsprinzipien oder der Rechtsordnung immanenten wesentlichen Wertvorstellungen unvereinbar sein läßt (Urteil vom 22. Februar 1985 – BVerwG 8 C 107.83 – Buchholz 406.11 § 134 Nr. 6 BBauG S. 5 ≪6≫ = DVBl 1985, 624; BFH, Beschluß vom 30. November 1987, a.a.O. und Urteil vom 18. Oktober 1988 – VII R 123/85 – BStBl II 1989 S. 76 ≪78≫). Dagegen ist die Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes nicht schon deswegen anzunehmen, weil er einer gesetzlichen Grundlage entbehrt (sog. “gesetzloser” Verwaltungsakt – vgl. dazu insbesondere Beschluß vom 21. Januar 1954, a.a.O.) oder die in Frage kommenden Rechtsvorschriften unrichtig angewendet worden sind (Urteil vom 7. Oktober 1964 – BVerwG VI C 59 und 64.63 – BVerwGE 19, 284 ≪287≫ und vom 22. Februar 1985, a.a.O.; BFH, Beschluß vom 1. Oktober 1981, a.a.O., Urteil vom 13. Mai 1987 – II R 140/84 – BStBl II 1987 S. 592 ≪593≫ und Beschluß vom 30. November 1987, a.a.O.). Der schwerwiegende Fehler des Verwaltungsaktes muß für einen verständigen Bürger offensichtlich sein (vgl. Urteil vom 7. Oktober 1964, a.a.O.). Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes ist daher nur dann anzunehmen, wenn die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden Anforderungen in so erheblichem Maße verletzt werden, daß von niemandem erwartet werden kann, den Verwaltungsakt als verbindlich anzuerkennen (BFH, Beschluß vom 1. Oktober 1981, Urteil vom 13. Mai 1987, Beschluß vom 30. November 1987 und Urteil vom 18. Oktober 1988, jeweils a.a.O.).
Nach diesen Maßstäben ist der Teilerlaß von Aussetzungszinsen in dem Bescheid der Beklagten vom 16. Mai 1991 nicht unwirksam. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß öffentliche Abgaben grundsätzlich nur nach Maßgabe der Gesetze erhoben werden dürfen und daß die aus Art. 20 Abs. 3 GG folgende strikte Bindung an das Gesetz, der im Abgabenrecht besondere und gesteigerte Bedeutung zukommt, es ausschließt, daß Abgabengläubiger und Abgabenschuldner von den gesetzlichen Regelungen abweichende Vereinbarungen treffen, sofern nicht das Gesetz dies ausnahmsweise gestattet. Der Grundsatz, daß die Abgabenerhebung nur nach Maßgabe der Gesetze und nicht abweichend von den gesetzlichen Regelungen aufgrund von Vereinbarungen zwischen Abgabengläubiger und Abgabenschuldner erfolgen kann, “ist für einen Rechtsstaat so fundamental und für jeden rechtlich Denkenden so einleuchtend, daß seine Verletzung als Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot zu betrachten ist, das Nichtigkeit zur Folge hat” (Urteile vom 5. Juni 1959 – BVerwG VII C 83.57 – BVerwGE 8, 329 ≪330≫, vom 18. April 1975 – BVerwG VII C 15.73 – BVerwGE 48, 166 ≪168≫ und vom 27. Januar 1982 – BVerwG 8 C 24.81 – BVerwGE 64, 361 ≪363≫). Diese für Vereinbarungen und für behördliche Zusagen (insoweit für die Zeit vor Inkrafttreten des Verwaltungsverfahrensgesetzes; vgl. nunmehr die Regelung des § 38 Abs. 2 in Verbindung mit § 44 VwVfG) ergangene Rechtsprechung kann aber nicht ohne weiteres auf die Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes nach § 44 Abs. 1 VwVfG oder nach § 125 Abs. 1 AO übertragen werden. So hat das Bundesverwaltungsgericht ebenfalls entschieden, daß ein durch Verwaltungsakt ausgesprochener Beitragsverzicht nicht schon wegen des gesetzlichen Verbotes, eine Abgabe abweichend von den gesetzlichen Regelungen zu erheben, insbesondere durch Verwaltungsmaßnahmen Abgabenbefreiung über den Rahmen der Gesetze hinaus zu gewähren, kraft Bundesrechts nichtig ist, weil Art. 20 Abs. 3 GG keine Bestimmung darüber trifft, welche Rechtsfolge für den Fall eines solchen Verstoßes eintreten soll. Ob ein Verwaltungsakt, der seinem Inhalt nach gegen Art. 20 Abs. 3 GG verstößt, nichtig ist, entscheidet deshalb allein das einschlägige Verwaltungsverfahrensrecht (Urteil vom 21. Oktober 1983 – BVerwG 8 C 174.81 – Buchholz 401.9 Beiträge Nr. 23 S. 15 ≪18≫ = DVBl 1984, 192 ≪193≫; vgl. zur Differenzierung zwischen nichtigen Vereinbarungen und Zusagen einerseits und in Form von Verwaltungsakten ergangenen Steuerverzichten bzw. dem Erlaß von Steuern andererseits auch OVG Koblenz, Beschluß vom 9. September 1985 – 12 B 50/85 – NVwZ 1986, 68; die Frage der Nichtigkeit eines Erlaßbescheides ist ausdrücklich offengelassen worden im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. Juni 1959, a.a.O. S. 332). Während bei öffentlich-rechtlichen Vereinbarungen wegen der Vorschrift des § 59 Abs. 1 VwVfG in Verbindung mit § 134 BGB allein der objektive Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot zur Nichtigkeit des Vertrages führt, sind nach § 125 Abs. 1 AO ebenso wie nach § 44 Abs. 1 VwVfG neben dem besonders schwerwiegenden Fehler eine bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände anzunehmende Offenkundigkeit als Voraussetzung für die Unwirksamkeit des Verwaltungsaktes normiert. Deswegen kommt es entgegen der Ansicht der Beklagten und des Oberbundesanwalts im vorliegenden Fall auch nicht darauf an, ob der hier streitige Erlaßbescheid in Erfüllung einer gegebenenfalls nichtigen Vereinbarung zwischen Klägerin und Beklagter ergangen ist. Entscheidend ist allein, wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, ob die Voraussetzungen des § 125 Abs. 1 AO vorliegen.
Dies ist mit dem Berufungsgericht zu verneinen. Denn der Fehler des Erlaßbescheides ist bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände jedenfalls nicht offenkundig. Entgegen der Ansicht der Beklagten kann nämlich nicht davon ausgegangen werden, daß jedem Gewerbetreibenden von vornherein ein möglicher guter Glaube in bezug auf die Zulässigkeit von Vereinbarungen über den Erlaß von Abgaben abzusprechen ist (vgl. dazu auch die Urteile vom 18. April 1975, a.a.O. S. 173 und vom 21. Oktober 1983, a.a.O. S. 18 bzw. 194 sowie OVG Koblenz, a.a.O. und OVG Lüneburg, Urteil vom 11. Juni 1985 – 9 A 5/82 – NVwZ 1986, 780 ≪781≫). Dies gilt um so mehr, wenn – wie hier – nicht die Steuerschuld, sondern Aussetzungszinsen (teilweise) erlassen werden.
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts, die mangels erheblicher Verfahrensrügen für den Senat bindend sind, ist der Geschäftsführer der Klägerin davon ausgegangen, daß der Teilverzicht von Aussetzungszinsen seitens der Beklagten ein gerechter Ausgleich für den Verzicht auf die Einlegung des gegen das Urteil des Finanzgerichts zulässigen Rechtsmittels sowie für die Bereitschaft zur sofortigen Bezahlung der strittigen Gewerbesteuer nebst Aussetzungszinsen in Höhe von insgesamt ca. 800 000 DM anzusehen war. Wegen der besonderen Umstände des Falles, nämlich der Beurteilung eines zunächst anders bewerteten Steuersachverhalts durch die Finanzbehörde zu Lasten der Klägerin mit der Folge einer Gewerbesteuernachforderung, wobei das finanzgerichtliche Verfahren mit einer Dauer von sieben bis acht Jahren zu dementsprechend hohen Aussetzungszinsen geführt hat, hat der Geschäftsführer der Klägerin nach den Feststellungen des Berufungsgerichts den Teilverzicht auf Aussetzungszinsen als zulässig angesehen. Es kommt noch hinzu, daß nach dem Inhalt der vom Berufungsgericht ausdrücklich in Bezug genommenen Vorgänge der Beklagten der Vorsitzende des Gemeinderates ebenso wie offenbar die Mehrheit seiner Mitglieder bei der Beschlußfassung über den Teilerlaß der Aussetzungszinsen im Mai 1991 davon ausging, daß die Einlegung von Rechtsmitteln gegen das finanzgerichtliche Urteil dazu führen müßte, daß die Beklagte auch weiterhin über Jahre hinweg auf die Einnahme der rückständigen Steuer und der bis dahin aufgelaufenen Zinsen würde verzichten müssen, andererseits aber die Beträge dringend brauchte. Bei dieser Ausgangsbasis ist es revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, daß das Berufungsgericht die Offensichtlichkeit des Mangels im Sinne des § 125 Abs. 1 AO verneint hat.
Soweit sich die Beklagte demgegenüber auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 7. Mai 1991 – IX ZR 30/90 – (BGHZ 114, 315 ≪327≫) beruft, wonach die Offenkundigkeit des Mangels im Sinne des § 125 Abs. 1 AO im Einzelfall auch angenommen werde, wenn der besonders schwere Fehler nicht allgemein zu erkennen, sondern nur für “Insider” offensichtlich sei, berücksichtigt sie nicht die Besonderheiten des vom Bundesgerichtshof entschiedenen Falles. Das Urteil beruht nämlich entscheidungserheblich auf dem Umstand, daß der Verwaltungsakt, der entgegen der gesetzlichen Regelung nicht schriftlich ergangen war, zu seiner Wirksamkeit dem Adressaten nicht bekanntgegeben werden mußte. Unter diesen Umständen können naturgemäß weder der Betroffene noch sonstige Außenstehende den dem Verwaltungsakt anhaftenden und zu seiner Nichtigkeit führenden Formmangel erkennen. Dies mag es rechtfertigen, für die Frage der Offenkundigkeit des Mangels lediglich auf diejenigen abzustellen, die den Mangel erkennen können, nämlich die “Insider” der Finanzverwaltung. Dies gilt aber nicht für den Regelfall, daß der Verwaltungsakt dem Beteiligten bekanntgegeben wurde.
Auch der vom Oberbundesanwalt unter Hinweis auf Tipke/Kruse (AO/FGO, Stand Juli 1997, § 125 AO Tz. 2) vertretenen Ansicht, die einem verständigen Bürger zu unterstellende Kenntnis aller in Betracht kommenden Umstände erstrecke sich auch auf die Kenntnis der Rechtslage im Einzelfall, vermag der Senat nicht zu folgen. Dies müßte nämlich dazu führen, daß schwerwiegende Rechtsfehler, deren Kenntnis dem verständigen Bürger unterstellt würden, letztlich immer als offenkundig im Sinne des § 125 Abs. 1 AO und des § 44 Abs. 1 VwVfG anzusehen wären.
2. Das Berufungsgericht hat auch zutreffend erkannt, daß der rechtswidrige, aber wirksame Erlaßbescheid nicht nach § 130 Abs. 2 AO zurückgenommen werden konnte. Da es sich bei dem Erlaß von Aussetzungszinsen aus Billigkeitsgründen nach § 237 Abs. 4 i.V.m. § 234 Abs. 2 AO ebenso wie bei einem Billigkeitserlaß nach § 227 AO nicht um einen Steuerbescheid, sondern einen sonstigen Verwaltungsakt handelt, richtet sich die mögliche Korrektur bzw. Änderung des Bescheides nicht nach § 172 ff. AO, sondern nach § 130 ff. AO. Die hier allein in Betracht kommende Rücknahme nach § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO setzt voraus, daß die Rechtswidrigkeit dem Begünstigten bekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht bekannt war. Insoweit hat das Berufungsgericht lediglich ausgeführt, daß die Voraussetzungen dieser Vorschrift “unstreitig” nicht vorliegen. In Verbindung mit den vorangegangenen Feststellungen des Berufungsgerichts zum guten Glauben des Geschäftsführers der Klägerin hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des Teilerlasses kann diese Feststellung nur dahin gehend verstanden werden, daß das Berufungsgericht davon ausgegangen ist, der Klägerin sei die Rechtswidrigkeit des Bescheides weder bekannt noch infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt gewesen. Dieses Verständnis des Berufungsurteils entspricht auch dem vom Verwaltungsgerichtshof in Bezug genommenen Akteninhalt. Zwar hat die Beklagte im Widerspruchsbescheid ausgeführt, die Rücknahme des Teilverzichts könne auch auf § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO gestützt werden, weil zu “unterstellen” sei, daß der Klägerin nach ihrer “verantwortlichen Beurteilung der Sachlage dieser Umstand bekannt gewesen sein mußte”. Dem ist die Klägerin in der Klagebegründung entgegengetreten und hat darauf hingewiesen, daß es keinerlei Grundlage für eine derartige Unterstellung gebe. Daraufhin hat die Beklagte weder in der Klageerwiderung noch in der Berufungsinstanz zu der Frage erneut Stellung genommen. Vielmehr hat sie mit ihrer Revision erklärt, sie teile die Auffassung des Berufungsgerichts, daß der Bescheid “nicht mehr in rechtmäßiger Weise nach § 130 AO zurückgenommen” werden konnte. Unter diesen Umständen fehlt es an jedem Anhaltspunkt für die vom Oberbundesanwalt ohne nähere Ausführungen vertretene Ansicht, der Bescheid könne nach § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO zurückgenommen werden, weil die äußeren Umstände des Falles darauf hindeuteten, daß die Rechtswidrigkeit des Bescheides der Klägerin bekannt gewesen sei.
3. Im Ergebnis zu Recht hat das Berufungsgericht weiter erkannt, daß die Aufhebung des Erlaßbescheides auch nicht durch den beigefügten Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 Abs. 1 Satz 1 AO gerechtfertigt ist.
a) Dabei kann dahinstehen, ob der dem Bescheid vom 16. Mai 1991 beigefügte Vorbehalt nach dem allein maßgeblichen Inhalt des Bescheides (§ 124 Abs. 1 Satz 2 AO; vgl. dazu Tipke/Kruse, AO/FGO, Stand Juli 1997, § 124 AO Tz. 5 ff.; Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Stand Juli 1997, § 124 AO Rn. 2 und 17 ff.; Frotscher in Schwarz, AO, Stand Mai 1997, § 124 Rn. 2a jeweils m.w.N.) sich trotz der Formulierung “hinsichtlich der Zinsanforderung” und dem Hinweis auf § 239 Abs. 1 AO aus der Sicht des Empfängers nach seinem objektiven Sinngehalt (auch) auf den Teilverzicht bezog – davon ist das Berufungsgericht (insoweit in Übereinstimmung mit dem Verwaltungsgericht) ohne nähere Ausführungen ausgegangen – oder ob der Vorbehalt – wie die Klägerin meint – nach seinem Wortlaut den Verzicht von vornherein nicht erfaßt. Im letzteren Falle wäre die Revision, ohne daß es weiterer Ausführungen bedürfte, schon deswegen zurückzuweisen. Im Ergebnis gilt das aber auch, wenn man sich der Auslegung des Berufungsgerichts anschließt.
b) Auch wenn nämlich der Vorbehalt der Nachprüfung gemäß § 164 Abs. 1 Satz 1 AO hier den im Bescheid vom 16. Mai 1991 ausgesprochenen Teilverzicht erfassen sollte, rechtfertigt dies die im angefochtenen Bescheid erfolgte Aufhebung des Erlasses nicht.
Allerdings ist der Revision zuzugestehen, daß der Vorbehalt entgegen der Annahme des Berufungsgerichts nicht unwirksam ist. Dies bedarf nach den vorstehenden Ausführungen (oben zu 1.) zu den Voraussetzungen der Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes nach § 125 Abs. 1 AO/§ 44 Abs. 1 VwVfG keiner weiteren Darlegung. Der Vorbehalt der Nachprüfung ist zwar – wie auch die Beklagte einräumt – soweit er sich auf den Zinsverzicht bezieht, rechtswidrig, weil § 164 AO nur für Steuerbescheide, nicht aber für Verwaltungsakte gilt, die unter §§ 130, 131 AO fallen (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., § 163 AO Tz. 2). Die unzulässige Beifügung eines Nachprüfungsvorbehalts ist aber nicht so schwerwiegend und schon gar nicht offenkundig, daß deswegen die Nichtigkeit des Vorbehaltes anzunehmen wäre (vgl. auch Urteil vom 22. März 1974 – BVerwG 7 C 31.72 – BVerwGE 45, 106 ≪108 f.≫ = Buchholz 401.5 § 17 GewStG Nr. 7 S. 17 ≪22≫; BFH, Urteile vom 9. März 1967 – IV 152/62 – BStBl III 1967 S. 518 und vom 1. Juni 1979 – III R 100/76 – BStBl II 1979 S. 609 ≪611≫).
Trotz der danach gegebenen Wirksamkeit des Vorbehalts durfte die Beklagte nach den Gesamtumständen des Falles hier von dem Vorbehalt keinen Gebrauch machen. Zwar ist mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs davon auszugehen, daß es für die Befugnis der Steuerbehörde, die ursprüngliche Steuerfestsetzung aufzuheben, nach § 164 Abs. 2 Satz 1 AO im Regelfall allein auf die Wirksamkeit des Vorbehalts ankommt. Insbesondere kann der Steuerpflichtige, sofern der Vorbehalt bestandskräftig geworden ist, gegenüber dem späteren Änderungsbescheid nicht einwenden, die Voraussetzungen der Vorläufigkeit hätten nicht vorgelegen (vgl. BFH, Urteile vom 3. Mai 1963 – II 53/61 U – BFHE 77, 196 ≪198 f.≫, vom 8. Juni 1966 – III 55/65 – BFHE 86, 534 ≪538≫, vom 9. März 1967 – IV 152/62 – BStBl III 1967 S. 518, vom 25. Oktober 1973 – IV R 80/72 – BStBl II 1974 S. 142 ≪144≫ und vom 14. September 1993 – VIII R 9/93 – BStBl II 1995 S. 2 ≪3≫; FG Nürnberg, Urteil vom 10. Mai 1983 – II 90/81 – EFG 1984, 54 ≪55≫; vgl. zum Widerrufsvorbehalt auch Urteil vom 21. November 1986 – BVerwG 8 C 33.84 – Buchholz 316 § 49 VwVfG Nr. 9 S. 4 ≪6≫ = NVwZ 1987, 498 ≪499≫ und BFH, Urteile vom 30. November 1982 – VIII R 9/80 – NVwZ 1983, 640 und vom 16. Juli 1985 – VII R 31/81 – BFHE 144, 189 ≪190≫). Diese Rechtsprechung bezieht sich aber – soweit ersichtlich – auf Fälle, in denen streitig war, ob die Voraussetzungen des § 164 Abs. 1 Satz 1 AO im Einzelfall gegeben waren, oder in denen entgegen der gesetzlichen Regelung des § 164 Abs. 3 Satz 3 AO ein ursprünglich wirksam erlassener Vorbehalt rechtswidrig nicht aufgehoben wurde (BFH, Urteil vom 14. September 1993, a.a.O.; vgl. dazu kritisch Trzaskalik in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O. § 164 Rn. 39 ff. und Frotscher in Schwarz, a.a.O. § 164 Rn. 53 sowie Schick, StuW 1992, 197 ≪214≫). Davon zu unterscheiden ist der hier gegebene Fall, daß der Nachprüfungsvorbehalt deswegen unzulässig ist, weil das Gesetz die Anwendung des § 164 AO auf bestimmte Arten von Verwaltungsakten – hier Erlaß von Aussetzungszinsen nach § 237 Abs. 4 i.V.m. § 234 Abs. 2 AO – nicht vorsieht. Denn ein im Gesetz für bestimmte Fälle nicht vorgesehener Vorläufigkeitsvermerk kann der Steuerbehörde nicht zu einer Erweiterung ihrer Möglichkeiten verhelfen (BFH, Urteil vom 1. Juni 1979 – III R 100/76 – BStBl II 1979 S. 609 ≪ 611≫; vgl. zum Widerrufsvorbehalt auch Urteil vom 27. Juni 1974 – BVerwG I C 10.73 – BVerwGE 45, 235 ≪241≫). Dies muß jedenfalls dann gelten, wenn der Vorbehalt – wie hier – nach den Feststellungen des Berufungsgerichts unter Verstoß gegen das Kommunalrecht (§ 39 GemO) erfolgte, weil der zur Entscheidung über den Verzicht allein berufene Gemeinderat einen solchen Vorbehalt nicht beschlossen hatte, und wenn sich die Steuerverwaltung darüber hinaus bei Erlaß des Bescheides – wie sich etwa aus dem bei den Akten befindlichen Vermerk vom 31. Juli 1991 ergibt – durchaus der mangelnden Rechtsgrundlage für den Vorbehalt bewußt war, sich aber so eine Möglichkeit zur Korrektur des Bescheides verschaffen wollte, die ihr der Gesetzgeber gerade nicht eingeräumt hatte.
Es kommt hinzu, daß die Ausübung des Vorbehalts unter den Umständen des vorliegenden Falles gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstieß. Dieser Einwand, auf den sich die Klägerin ausdrücklich beruft, kann auch einem bestandskräftigen Nachprüfungsvorbehalt entgegengehalten werden und wird deswegen auch in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs im Zusammenhang mit der Frage einer möglichen Verwirkung wiederholt geprüft (vgl. etwa BFH, Urteile vom 24. April 1959 – III 340/57 U – BFHE 69, 100 ≪104≫ und vom 9. März 1967 – IV 152/62 – BStBl III 1967 S. 518 f.).
Nach dem vom Berufungsgericht in Bezug genommenen Akteninhalt hatte der Geschäftsführer der Klägerin der Beklagten angeboten, auf weitere Rechtsmittel gegen die geänderte Gewinnfeststellung durch das Finanzamt zu verzichten, wenn ihm die angefallenen Aussetzungszinsen teilweise erlassen würden. Dem hat die Beklagte durch den Beschluß des Gemeinderats vom 16. Mai 1991 – wenn auch nicht in vollem Umfang – entsprochen. Der Beschluß wurde dem Geschäftsführer der Klägerin noch am selben Tage und damit innerhalb der noch laufenden Rechtsmittelfrist vom Oberbürgermeister der Beklagten mitgeteilt. Wenn die Klägerin daraufhin die Rechtsmittelfrist verstreichen ließ und damit ihren Teil der Absprache mit der Beklagten in unwiderruflicher Weise erbracht hatte, ist es treuwidrig, wenn die Beklagte später unter Berufung auf einen zwar bestandskräftig gewordenen, aber gesetzwidrigen Vorbehalt der Nachprüfung, dessen mangelnde Rechtsgrundlage ihr noch dazu von vornherein bekannt war, den Teilerlaß der Aussetzungszinsen wieder aufhebt (vgl. zur Frage des Vertrauensschutzes bei Abgabe von aus prozessualen Gründen unwiderruflichen Prozeßerklärungen auch BFH, Urteil vom 29. Oktober 1987 – X R 1/80 – BStBl II 1988 S. 121 ≪123≫).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Unterschriften
Dr. Kleinvogel, Dr. Silberkuhl, Sailer, Krauß, Golze
Fundstellen
DStRE 1998, 187 |
HFR 1998, 1020 |
ZKF 1999, 37 |
KStZ 1998, 135 |