Entscheidungsstichwort (Thema)
Unternehmereigenschaft, Einrichtung des öffentlichen Rechts, Wettbewerbsverzerrung, Betrieb von öffentlichen Straßen, Mautgebühr
Leitsatz (amtlich)
Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass eine Einrichtung des öffentlichen Rechts, die eine Tätigkeit ausübt, die darin besteht, Zugang zu einer Straße gegen Zahlung einer Maut zu gewähren, in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens nicht als mit den privaten Betreibern im Wettbewerb stehend anzusehen ist, die Mautgebühren auf anderen mautpflichtigen Straßen gemäß einem Vertrag mit der betreffenden Einrichtung des öffentlichen Rechts nach nationalen Rechtsvorschriften erheben.
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 13 Abs. 1
Beteiligte
The Revenue Commissioners |
Verfahrensgang
Appeal Commissioners (Irland) (Beschluss vom 11.06.2015; ABl. EU 2015, Nr. C 311/32) |
Tatbestand
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 ‐ Tätigkeit der Verwaltung und Bereitstellung von Straßenanlagen gegen Zahlung einer Maut ‐ Von einer Einrichtung des öffentlichen Rechts ausgeübte Tätigkeiten, die ihr im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen ‐ Vorhandensein privater Betreiber ‐ Größere Wettbewerbsverzerrungen ‐ Bestehen eines gegenwärtigen oder potenziellen Wettbewerbs“
In der Rechtssache C-344/15
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von den Appeal Commissioners (Rechtsbehelfsinstanz in Zoll- und Steuersachen, Irland) mit Entscheidung vom 11. Juni 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Juli 2015, in dem Verfahren
National Roads Authority
gegen
The Revenue Commissioners
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Richters J.-C. Bonichot in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Sechsten Kammer sowie der Richter A. Arabadjiev und C. G. Fernlund (Berichterstatter),
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. Mai 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der National Roads Authority, vertreten durch E. O’Hanrahan, Solicitor, und M. Collins, SC,
‐ der Revenue Commissioners, vertreten durch M.-C. Maney, Solicitor, und E. Barrington, SC,
‐ der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze als Bevollmächtigten,
‐ der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, B. Majerczyk-Graczykowska und K. Maćkowska als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Owsiany-Hornung und R. Lyal als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. September 2016
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der National Roads Authority (Nationale Straßenbehörde, Irland, im Folgenden: NRA) und den Revenue Commissioners (Steuerverwaltung, Irland) wegen der Mehrwertsteuerpflichtigkeit der NRA im Rahmen ihrer Tätigkeit der Bereitstellung von Straßenanlagen gegen Zahlung einer Maut.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Mehrwertsteuerrichtlinie hat mit Wirkung vom 1. Januar 2007 die Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie) aufgehoben und ersetzt. Nach den Erwägungsgründen 1 und 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie war eine Neufassung der Sechsten Richtlinie erforderlich, um durch eine Überarbeitung von Struktur und sprachlicher Fassung, jedoch grundsätzlich ohne Änderung des Inhalts für Klarheit und Wirtschaftlichkeit sämtlicher anwendbaren Bestimmungen zu sorgen.
Rz. 4
Da Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 bis 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 1 bis 3 der Sechsten Richtlinie inhaltlich entspricht, ist die vom Gerichtshof hinsichtlich der zweitgenannten Bestimmung vorgenommene Auslegung auf die erstgenannte Bestimmung zu erstrecken.
Rz. 5
Art. 2 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
a) Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt;
…
c) Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt;
…“
Rz. 6
In Art. 9 dieser Richtlinie heißt es:
„(1) Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Di...