Entscheidungsstichwort (Thema)
Telekommunikationsdienste. Richtlinie 97/13/EG. Artikel 11 Absatz 1. Auf Einzelgenehmigungen anwendbare Gebühren und Abgaben. Artikel 10 EG. Vorrang des Gemeinschaftsrechts. Rechtssicherheit. Bestandskräftiger Verwaltungsakt
Beteiligte
Bundesrepublik Deutschland |
Tenor
1. Artikel 11 Absatz 1 der Richtlinie 97/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. April 1997 über einen gemeinsamen Rahmen für Allgemein- und Einzelgenehmigungen für Telekommunikationsdienste steht der Erhebung einer Gebühr für Einzelgenehmigungen entgegen, bei deren Berechnung die Kosten des allgemeinen Verwaltungsaufwands berücksichtigt werden, die der Regulierungsbehörde im Zusammenhang mit der Erteilung dieser Genehmigungen über einen Zeitraum von 30 Jahren entstehen.
2. Artikel 10 EG in Verbindung mit Artikel 11 Absatz 1 der Richtlinie 97/13 gebietet es, dass das nationale Gericht beurteilt, ob eine mit dem Gemeinschaftsrecht klar unvereinbare Regelung wie jene, die den in den Ausgangsverfahren streitigen Gebührenbescheiden zugrunde liegt, offensichtlich rechtswidrig im Sinne des betreffenden nationalen Rechts ist. Ist dies der Fall, hat das nationale Gericht daraus alle sich nach seinem nationalen Recht in Bezug auf die Rücknahme dieser Bescheide ergebenden Konsequenzen zu ziehen.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen C-392/04 und C-422/04
betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidungen vom 7. Juli 2004, beim Gerichtshof eingegangen am 16. September und am 4. Oktober 2004, in den Verfahren
i-21 Germany GmbH (C-392/04),
Arcor AG & Co. KG, vormals ISIS Multimedia Net GmbH & Co. KG (C-422/04)
gegen
Bundesrepublik Deutschland
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten P. Jann, C. W. A. Timmermans, A. Rosas und J. Malenovský, der Richter S. von Bahr (Berichterstatter) und J. N. Cunha Rodrigues, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter K. Lenaerts, E. Juhász, G. Arestis, A. Borg Barthet und M. Ilešič,
Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer,
Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. Februar 2006,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der i-21 Germany GmbH, vertreten durch die Rechtsanwälte M. Geppert, M. Schütze und B. Kemper,
- der Arcor AG & Co. KG, vertreten durch die Rechtsanwälte N. Nolte und J. Tiedemann,
- der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch S. Prömper als Bevollmächtigten,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch H. G. Sevenster und C. ten Dam als Bevollmächtigte,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch M. Shotter und S. Grünheid als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. März 2006
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Artikel 11 Absatz 1 der Richtlinie 97/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. April 1997 über einen gemeinsamen Rahmen für Allgemein- und Einzelgenehmigungen für Telekommunikationsdienste (ABl. L 117, S. 15) sowie von Artikel 10 EG.
2 Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen der i-21 Germany GmbH (im Folgenden: i-21) bzw. der Arcor AG & Co. KG, ehemals ISIS Multimedia Net GmbH & Co. KG (im Folgenden: Arcor), einerseits und der Bundesrepublik Deutschland andererseits über die von den genannten Gesellschaften für die Erteilung einer Telekommunikationslizenz gezahlten Gebühren.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
3 Artikel 11 Absatz 1 der Richtlinie 97/13 sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass von dem Unternehmen im Rahmen der Genehmigungsverfahren nur die Gebühren erhoben werden, die die für die Ausstellung, Verwaltung, Kontrolle und Durchsetzung der jeweiligen Einzelgenehmigungen anfallenden Verwaltungskosten abdecken. Die Gebühren für eine Einzelgenehmigung müssen in Relation zu dem damit verbundenen Aufwand stehen und sind mit ausreichenden Einzelheiten in geeigneter Form zu veröffentlichen, damit die Kenntnisnahme ohne Schwierigkeiten möglich ist.”
4 Die Richtlinie 97/13 wurde durch die Richtlinie 2002/21/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste (Rahmenrichtlinie) (ABl. L 108, S. 33) aufgehoben.
Nationales Recht
5 Artikel 11 Absatz 1 der Richtlinie 97/13 wurde in Deutschland durch das Telekommunikationsgesetz (TKG) vom 25. Juli 1996 (BGBl. I S. 1120) und die vom Bundesministerium für Post und Telekommunikation auf der Grundlage dieses Gesetzes erlassene Telekommunikations-Lizenzgebührenverordnung (TKLGebV) vom 28. Juli 1997 (BGBl. I S. 1936) umgesetzt.
6 § 48 Absatz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) vom 25. Mai 1976 (BGBl. I S. 1253) in der Fassung der Bekanntmachung vom 21. September 1998...