Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Soziale Sicherheit. Familienleistungen. Prioritätsregeln bei Zusammentreffen von Ansprüchen. Verpflichtung des Trägers des nachrangig zuständigen Mitgliedstaats, einen Antrag auf Familienleistungen an den Träger des vorrangig zuständigen Mitgliedstaats weiterzuleiten. Kein Antrag auf Familienleistungen im Wohnmitgliedstaat des Kindes. Teilweise Rückforderung der im Mitgliedstaat der Beschäftigung eines Elternteils gezahlten Familienleistungen
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 883/2004; Verordnung (EG) Nr. 883/2004 Art. 68
Beteiligte
Familienkasse Sachsen der Bundesagentur für Arbeit |
Tenor
Art. 68 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, der Prioritätsregeln bei Zusammentreffen von Ansprüchen auf Familienleistungen festlegt,
ist dahin auszulegen, dass
er es dem Träger eines Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften nach den in Abs. 1 dieses Artikels genannten Kriterien nachrangig sind, nicht gestattet, von der betroffenen Person in diesem Mitgliedstaat gezahlte Familienleistungen aufgrund dessen teilweise zurückzuverlangen, dass nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats ein Anspruch auf solche Leistungen besteht, sofern in diesem anderen Mitgliedstaat eine Familienleistung weder festgesetzt noch ausgezahlt wurde; er gestattet es diesem Träger jedoch, von dem vorrangig zuständigen Träger die Erstattung des Betrags der Leistungen zu verlangen, der den Betrag übersteigt, den er nach der Verordnung leisten musste.
Tatbestand
In der Rechtssache C-36/23
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Bremen (Deutschland) mit Entscheidung vom 19. Januar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Januar 2023, in dem Verfahren
L
gegen
Familienkasse Sachsen der Bundesagentur für Arbeit
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen (Berichterstatter) sowie des Richters J. Passer und der Richterin M. L. Arastey Sahún,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: N. Mundhenke, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. November 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der Familienkasse Sachsen der Bundesagentur für Arbeit, vertreten durch M. Gößling als Bevollmächtigte,
- – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller als Bevollmächtigten,
- – der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. Fiandaca, Avvocato dello Stato,
- – der niederländischen Regierung, vertreten durch E. M. M. Besselink und M. K. Bulterman als Bevollmächtigte,
- – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, J. Lachowicz und A. Siwek-Řlusarek als Bevollmächtigte,
- – der slowakischen Regierung, vertreten durch E. V. Drugda und S. Ondrášiková als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Clotuche-Duvieusart und B.-R. Killmann als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 68 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen L und der Familienkasse Sachsen der Bundesagentur für Arbeit (Deutschland) (im Folgenden: Familienkasse) über die Forderung der Familienkasse auf teilweise Erstattung des an L gezahlten Kindergelds.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung Nr. 1408/71
Rz. 3
Art. 76 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung (ABl. 1997, L 28, S. 1) (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71) lautete:
„(1) Sind für ein und denselben Zeitraum für ein und denselben Familienangehörigen in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet die Familienangehörigen wohnen, Familienleistungen aufgrund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit vorgesehen, so ruht der Anspruch auf die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gegebenenfalls gemäß Artikel 73 bzw. 74 geschuldeten Familienleistungen bis zu dem in den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats vorgesehenen Betrag.
(2) Wird in dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet die Familienangehörigen wohnen, kein Antrag auf Leistungsgewährung...