Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Gleichbehandlung. Familienleistungen, die Entwicklungshelfern gewährt werden, die ihre Familienangehörigen an ihren Einsatzort im Drittland mitnehmen. Abschaffung. Rechtsakte der Union. Tragweite von Verordnungen. Nationale Regelung, deren persönlicher Geltungsbereich über den einer Verordnung hinausgeht. Voraussetzungen. Geltungsbereich. Arbeitnehmerin mit Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats, die bei einem Arbeitgeber mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als Entwicklungshelferin beschäftigt ist und in ein Drittland entsendet wird. Recht des Antragstellers auf Familienleistungen, nur einen einzigen Antrag einzubringen, nämlich beim Träger des vorrangig zuständigen Mitgliedstaats oder beim Träger des nachrangig zuständigen Mitgliedstaats
Normenkette
EGV 883/2004 Art. 11 Abs. 3 Buchst. a; AEUV Art. 48, 45, 288 Abs. 2; EGV 987/2009 Art. 60 Abs. 3, 2; EGV 883/2004 Art. 68 Abs. 3 Buchst. a
Beteiligte
Verfahrensgang
Bundesfinanzgericht (Österreich) (Beschluss vom 30.07.2020; ABl. EU 2020, Nr. C 433/16) |
Tenor
1. Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass eine Arbeitnehmerin mit Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats, in dem sie und ihre Kinder auch ihren Wohnort haben, die mit einem Arbeitgeber mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat ein Beschäftigungsverhältnis als Entwicklungshelferin eingeht, das nach den Rechtsvorschriften dieses anderen Mitgliedstaats dessen Pflichtversicherungssystem unterfällt, und die zwar nicht unmittelbar nach Einstellung, jedoch nach Absolvierung einer Vorbereitungszeit im anderen Mitgliedstaat – in dem sie nach Rückkehr eine Wiedereingliederungszeit verbringt – in einen Drittstaat entsendet wird, als Person anzusehen ist, die im anderen Mitgliedstaat eine Beschäftigung im Sinne der genannten Bestimmung ausübt.
2. Art. 288 Abs. 2 AEUV ist dahin auszulegen, dass er dem Erlass einer mitgliedstaatlichen Vorschrift, deren persönlicher Geltungsbereich insofern über den der Verordnung Nr. 883/2004 hinausgeht, als sie eine Gleichstellung der Angehörigen der Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 mit seinen eigenen Staatsangehörigen vorsieht, nicht entgegensteht, sofern diese Vorschrift im Einklang mit dieser Verordnung ausgelegt wird und deren Vorrang nicht in Frage gestellt wird.
3. Art. 68 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 60 Abs. 2 und 3 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung Nr. 883/2004 sind dahin auszulegen, dass sie den Träger des vorrangig zuständigen Mitgliedstaats und den Träger des nachrangig zuständigen Mitgliedstaats derart miteinander verbinden, dass der Antragsteller auf Familienleistungen nur einen einzigen Antrag bei einem dieser Träger einbringen muss, der dann von diesen beiden Trägern gemeinsam zu erledigen ist.
4. Die Art. 45 und 48 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht untersagen, generell Familienleistungen abzuschaffen, die er bis dahin Entwicklungshelfern gewährte, die ihre Familienangehörigen an ihren Einsatzort im Drittland mitnehmen, sofern diese Abschaffung zum einen unterschiedslos sowohl für Berechtigte mit Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats als auch für solche mit Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats gilt und zum anderen eine unterschiedliche Behandlung der betroffenen Entwicklungshelfer nicht danach bewirkt, ob sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit vor oder nach der Abschaffung Gebrauch gemacht haben, sondern danach, ob sie mit ihren Kindern in einem Mitgliedstaat oder in einem Drittland wohnen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzgericht (Österreich) mit Entscheidung vom 30. Juli 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 6. August 2020, in dem Verfahren
QY
gegen
Finanzamt Österreich, vormals Finanzamt für den 8., 16. und 17. Bezirk in Wien,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Siebten Kammer J. Passer in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Achten Kammer sowie der Richter F. Biltgen (Berichterstatter) und N. Wahl,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll, E. Samoilova und A. Posch als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch B.-R. Killmann und D. Martin als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das ...