Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Soziale Sicherheit der Wandererwerbstätigen. Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Familienleistungen. Rückwirkende Zahlung. Umzug der berechtigten Person in einen anderen Mitgliedstaat. Begriff ‚Antrag’. Pflicht zur gegenseitigen Information und Zusammenarbeit. Nichterfüllung. Zwölfmonatige Verjährungsfrist. Effektivitätsgrundsatz
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 883/2004 Art. 76 Abs. 4, Art. 81
Beteiligte
Chief Appeals Officer u.a |
The Chief Appeals Officer |
The Social Welfare Appeals Office |
The Minister for Employment Affairs |
The Minister for Social Protection |
Tenor
1. Art. 81 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
ist wie folgt auszulegen:
Der Begriff „Antrag” im Sinne dieses Artikels erfasst nur den Antrag einer Person, die ihr Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat und den Antrag bei den Behörden eines Mitgliedstaats gestellt hat, der nach den Kollisionsnormen dieser Verordnung nicht zuständig ist. Daher umfasst dieser Begriff weder den ursprünglichen Antrag, den eine Person, die noch nicht von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, gemäß den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gestellt hat, noch die wiederkehrende Zahlung – durch die Behörden dieses Mitgliedstaats – einer Leistung, die zum Zeitpunkt dieser Zahlung normalerweise von einem anderen Mitgliedstaat geschuldet wird.
2. Das Unionsrecht, insbesondere der Effektivitätsgrundsatz, steht der Anwendung einer nationalen Regelung nicht entgegen, wonach für die Rückwirkung eines Antrags auf Kindergeld eine zwölfmonatige Verjährungsfrist gilt, da diese Verjährungsfrist es den betreffenden Wandererwerbstätigen nicht praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert, die ihnen durch die Verordnung Nr. 883/2004 verliehenen Rechte auszuüben.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) mit Entscheidung vom 30. November 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Januar 2021, in dem Verfahren
FS
gegen
The Chief Appeals Officer,
The Social Welfare Appeals Office,
The Minister for Employment Affairs,
The Minister for Social Protection
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. Passer sowie der Richter F. Biltgen (Berichterstatter) und N. Wahl,
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von FS, vertreten durch S. Kirwan, Solicitor, A. McMahon, BL, und D. Shortall, SC,
- von The Chief Appeals Officer, The Social Welfare Appeals Office, The Minister for Employment Affairs und The Minister for Social Protection, vertreten durch M. Browne, A. Joyce und J. Quaney als Bevollmächtigte im Beistand von K. Binchy, Barrister, und C. Donnelly, SC,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch J. Pavliš, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch B.-R. Killmann und D. Martin als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 76 Abs. 4 und Art. 81 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Klägerin des Ausgangsverfahrens, FS, und dem Chief Appeals Officer (Leiter der Widerspruchsbehörde in Angelegenheiten der sozialen Sicherheit, Irland), dem Social Welfare Appeals Office (Widerspruchsbehörde in Angelegenheiten der sozialen Sicherheit, Irland), dem Minister for Employment Affairs (Minister für Beschäftigung) und dem Minister for Social Protection (Minister für Sozialschutz) wegen der Ablehnung eines von FS gestellten Antrags auf rückwirkende Zahlung von Kindergeld.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 76 („Zusammenarbeit”) Abs. 4 und 5 der Verordnung Nr. 883/2004 lautet:
„(4) Die Träger und Personen, die in den Geltungsbereich dieser Verordnung fallen, sind zur gegenseitigen Information und Zusammenarbeit verpflichtet, um die ordnungsgemäße Anwendung dieser Verordnung zu gewährleisten.
Die Träger beantworten gemäß dem Grundsatz der guten Verwaltungspraxis alle Anfragen binnen einer angemessenen Frist und übermitteln den betroffenen Personen in diesem Zusammenhang alle erforderlichen Angaben, damit diese die ihnen durch diese Verordnung eingeräumten Rechte ausüben können.
Die betroffenen Personen müssen die Träger des zuständigen Mitgliedstaats und des Wohnmitgliedstaats so bald wie möglich über jede Änderung ihrer persönlichen oder familiären Situation unterrichten, die sich auf ihre Leistungsansprüche nach dieser ...