Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufhebung von Vollstreckungsmaßnahmen wegen wirtschaftlicher Schäden durch das Coronavirus: Pfändung von Bankguthaben - Selbstbindung der Verwaltung durch das BMF-Schreiben vom 19.03.2020 – Anordnungsanspruch gemäß § 258 AO – Beendigung bereits laufender Zwangsvollstreckungsmaßnahmen – Interessenabwägung in Bezug auf Anordnungsgrund – Bemessung der Sicherheitsleistung
Leitsatz (redaktionell)
- Aus dem ermessensregelnden BMF-Schreiben vom 19.03.2020 (BStBl. I 2020, 262) zu steuerlichen Maßnahmen zur Berücksichtigung wirtschaftlicher Schäden durch das Coronavirus folgt aufgrund der Selbstbindung der Verwaltung und dem Gleichbehandlungsgrundsatz ein Anordnungsanspruch gemäß § 258 AO auf Aufhebung liquiditätsentziehender Vollstreckungsmaßnahmen (Pfändung von Bankguthaben) bis zum 31.12.2020, wenn der Vollstreckungsschuldner aufgrund der in Art. 5 § 2 des Gesetzes zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht zugelassenen Einbehaltung geschuldeter Mietzahlungen Liquiditätseinbußen zu tragen hat.
- Das BMF-Schreiben gebietet auch die Beendigung noch laufender, bereits vor dessen Erlass ausgebrachter Zwangsvollstreckungsmaßnahmen.
- Vor dem Hintergrund der sich durch die Corona-Einschränkungen ergebenden Auswirkungen auf die Wirtschaftsteilnehmer ist bei der für das Vorliegen eines Anordnungsgrundes vorzunehmenden Interessenabwägung dem Interesse des Steuerschuldners an der vorläufigen Beendigung der Vollstreckungsmaßnahmen der Vorzug zu geben.
- In Abwägung des Sicherungsbedürfnisses des FA gegenüber dem Regelungsbedürfnis des Steuerschuldners und der Umstände des Einzelfalls kann die einstweilige Beendigung der Zwangsvollstreckung von einer Sicherheitsleistung in Höhe von 50% des Vollstreckungsbetrags abhängig gemacht werden.
Normenkette
FGO § 114 Abs. 1 S. 2, Abs. 3, 5; AO § 258; GG Art. 3 Abs. 1; ZPO § 920 Abs. 1-2, § 921 S. 2, § 938 Abs. 1
Streitjahr(e)
2010, 2014
Tatbestand
Die Antragsteller begehren vorläufigen Rechtsschutz gegen die Pfändung von Bankguthaben.
Die zusammen zur Einkommensteuer veranlagten Antragsteller erzielen seit Jahren im Wesentlichen Vermietungseinkünfte sowie Einkünfte aus Kapitalgesellschaftsbeteiligungen. Für die Veranlagungszeiträume 2010 sowie 2014 streiten sie in anderen Klageverfahren um die Anerkennung von vortragsfähigen Verlusten i.H.v. ca. 1,5 Mio. Euro. Für den Fall des Obsiegens gehen die Antragsteller davon aus, dass der Verlust bis mindestens zum Veranlagungszeitraum 2019 vorzutragen sei und zwischenzeitliche Einkommensteuerfestsetzungen nachträglich auf 0 Euro zu reduzieren seien.
Wegen fälliger Steuerforderungen, gegen die sich die Antragsteller ebenfalls in verschiedenen weiteren anhängigen Eilrechts- und Hauptsacheverfahren wehren, verfügte der Antragsgegner (im Folgenden: das Finanzamt -FA-) unter dem 19.03.2020 die Pfändung und Einziehung von Bankguthaben der Antragssteller bei der Bank C sowie der Bank D. Nach den beigefügten Übersichten erfolgt die Vollstreckung wegen folgender rückständiger Steuern:
Lfd. Nr. |
Schuldgrund |
Fälligkeit |
Schuldbetrag EUR |
Säumniszuschläge EUR |
1 |
Solid.Zuschl.ESt 2009 |
31.08.2015 |
9,00 € |
|
2 |
Einkommensteuer 2010 |
18.01.2016 |
44.566,00 € |
80.286,00 € |
3 |
Solid.Zuschl.ESt 2010 |
18.01.2016 |
2.451,13 € |
4.413,50 € |
4 |
Einkommensteuer 2016 |
07.11.2019 |
63.340,00 € |
3.165,00 € |
5 |
Einkommensteuer (Zinsen 'Voll') 2016 |
07.11.2019 |
5.697,00 € |
|
6 |
Solid.Zuschl.ESt 2016 |
07.11.2019 |
3.483,70 € |
172,50 € |
7 |
Einkommensteuer 4. Vj.2018 |
07.11.2019 |
253.692,00 € |
12.682,50 € |
8 |
Solid.Zuschl.ESt 4.Vj.2018 |
07.11.2019 |
13.953,00 € |
697,50 € |
9 |
Einkommensteuer 4. Vj.2019 |
10.12.2019 |
253.086,00 € |
10.122,00 € |
10 |
Solid.Zuschl.ESt 4.Vj.2019 |
10.12.2019 |
13.919,00 € |
556,00 € |
|
Summe |
|
654.196,83 € |
112.095,00 € |
|
Summe Spalten 4 + 5 |
|
766.291,83 € |
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Die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen sind den Drittschuldnern am 25.03.2020 zugestellt worden. Mit Schreiben des FA vom 30.03.2020 wurden den Antragstellern Ausfertigungen der Verfügungen übersandt sowie die Zustellung an die Drittschuldner zur Kenntnis gebracht.
Mit Verweis auf die anhängigen Klageverfahren unter anderem zu den Veranlagungszeiträumen 2010 und 2014, in denen die Antragsteller die Berücksichtigung höherer Verluste mit der Folge eines Verlustrück- bzw. -vortrags begehren, beantragten die Antragsteller am 18.02.2020 beim FA Vollstreckungsschutz. Diesen Antrag erneuerten sie nach Erlass und Kenntniserlangung von den Pfändungsverfügungen mit Schreiben an das FA vom 30.03.2020 mit dem erweiterten Begehren, offene Steuerforderungen zu stunden, bis zum 31.12.2020 Vollstreckungsaufschub zu gewähren und die eingeleiteten Kontopfändungen aufzuheben. Zur Begründung verwiesen sie neben den noch zu erstreitenden Verlusten zudem auf das Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 19.03.2020 (BMF-Schreiben vom 19.03.2020) betreffend „Steuerliche Maßnahmen zur Berücksichtigung des Coronavirus COVID-19/SARS-CoV-2“ (am 07.04.2020 veröffentlicht im Bundessteuerblatt Teil I -BStBl. I- 2020, ...