Entscheidungsstichwort (Thema)

Ausnahmsweise Anfechtbarkeit eines Nullbescheides; Verlustfeststellung nach § 10d Abs. 4 EStG; Änderung eines Steuerbescheides nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, Abs. 2 AO

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Ausnahmsweise kann die Klage gegen einen Nullbescheid zulässig sein, wenn der Bescheid sich für den Kläger nachteilig auswirkt, weil in ihm angesetzte Besteuerungsgrundlagen im Rahmen anderer Verfahren verbindliche Entscheidungsvorgaben liefern.

2. Nach der gesetzlichen Neukonzeption des Verhältnisses zwischen Steuerfestsetzung und Verlustfeststellung nach § 10d Abs. 4 EStG durch das Jahressteuergesetz 2010 kann eine Beschwer im Hinblick auf einen Nullbescheid gegeben sein, wenn der Festsetzung Besteuerungsgrundlagen zu Grunde gelegt worden sind, die zur Feststellung eines zu niedrigen Verlustvortrags führen können.

3. § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO gestattet der Finanzverwaltung eine nur vorläufige Steuerfestsetzung, wenn die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens beim EuGH, dem BVerfG oder einem obersten Bundesgericht ist.

4. § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO bezweckt ausweislich der Gesetzesbegründung die Vermeidung von Massenrechtsbehelfen, gestattet aber keine nachteiligen Änderungen an einer für den Steuerpflichtigen günstigen Steuerfestsetzung.

5. Wenn eine Rettungssanitäterin in den Jahren 2011 bis 2016 ein Medizinstudium absolviert und deshalb erhebliche Verluste steuerlich geltend gemacht hat, die das Finanzamt als negative Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit mit einem Vorläufigkeitsvermerk versehen bei den Einkommensteuerveranlagungen 2015 und 2016 berücksichtigt hat, können die entsprechenden Einkommensteuerbescheide nicht mehr zum Nachteil der Steuerpflichtigen geändert werden, soweit sie nunmehr der gesetzlichen Regelung in § 9 Abs. 6 EStG nicht mehr entsprechen.

 

Normenkette

AO § 165 Abs. 2; EStG § 9 Abs. 6, § 10d Abs. 4; AO § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3

 

Nachgehend

BFH (Aktenzeichen VI R 14/23)

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Beklagte die streitgegenständlichen Einkommensteuerbescheide zu Recht gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, Abs. 2 AO geändert hat.

Die Klägerin absolvierte in den Jahren 2009 und 2010 einen Lehrgang zur Rettungssanitäterin und schloss diesen mit dem entsprechenden Examen ab. Die Ausbildung dauerte nicht länger als drei Monate. Der Klägerin wurde hierüber durch einen Hilfsdienst am 24.09.2009 ein Ausbildungsnachweis erteilt. Zudem wurde der Klägerin am 13.02.2010 ein Zeugnis über die bestandene staatliche Prüfung für Rettungssanitäterinnen ausgestellt.

Nach der Ausbildung als Rettungssanitäterin begann die Klägerin ein Medizinstudium, das in den Jahren 2011-2016 zu erheblichen Verlusten führte.

Im Rahmen ihrer Einkommensteuererklärungen für die Veranlagungszeiträume 2015 und 2016 machte die Klägerin Ausbildungskosten für ihr Medizinstudium geltend, die zu negativen Einkünften bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit im Jahre 2015 i.H.v. … EUR und im Jahre 2016 i.H.v. … EUR führten. Im Rahmen der erstmaligen Einkommensteuerbescheide für 2015 vom 18.03.2016 und für 2016 vom 14.09.2017 fanden diese negativen Einkünfte Berücksichtigung. Die Bescheide ergingen gemäß § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO vorläufig hinsichtlich der Abziehbarkeit der Aufwendungen für eine Berufsausbildung oder ein Studium als Werbungskosten oder Betriebsausgaben (§ 4 Abs. 9, § 9 Abs. 6 EStG). In den Erläuterungen zu diesen Einkommensteuerbescheiden heißt es bezüglich des vorgenannten Vorläufigkeitsvermerks wie folgt:

„Die Festsetzung der Einkommensteuer ist gemäß § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit und verfassungskonforme Auslegung der Norm vorläufig hinsichtlich der Abziehbarkeit der Aufwendungen für eine Berufsausbildung oder ein Studium als Werbungskosten oder Betriebsausgaben (§ 4 Abs. 9, § 9 Abs. 6 EStG).

Die Vorläufigkeitserklärung erfasst sowohl die Frage, ob die angeführten gesetzlichen Vorschriften mit höherrangigem Recht vereinbar sind, als auch den Fall, dass das Bundesverfassungsgericht oder der Bundesfinanzhof die streitige verfassungsrechtliche Frage durch verfassungskonforme Auslegung der angeführten gesetzlichen Vorschriften entscheidet (BFH-Urteil vom 30.09.2010 – III R 39/08BStBl. II 2011, S. 11). Die Vorläufigkeitserklärung erfolgt lediglich aus verfahrenstechnischen Gründen. Sie ist nicht dahin zu verstehen, dass die im Vorläufigkeitsvermerk angeführten gesetzlichen Vorschriften als verfassungswidrig oder als gegen Unionsrecht verstoßend angesehen werden. Soweit die Vorläufigkeitserklärung die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Norm betrifft, ist sie außerdem nicht dahingehend zu verstehen, dass die Finanzverwaltung es für möglich hält, das Bundesverfassungsgericht oder der Bundesfinanzhof könne die im Vorläufigkeitsvermerk angeführte Rechtsnorm gegen ihren Wortlaut auslegen. Sollte auf Grund einer diesbezüglichen Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union, des Bun...

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