Entscheidungsstichwort (Thema)
Rückwirkende Änderbarkeit bestandskräftiger Einkommensteuerbescheide bei Kirchensteuer-Erstattungsüberhängen
Leitsatz (redaktionell)
Bestandskräftige Einkommensteuerbescheide, in denen gezahlte Kirchensteuer als Sonderausgaben abgezogen worden sind, können gem. § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO aufgrund eines später eingetretenen Kirchensteuerüberhangs rückwirkend geändert werden. Rechtsgrund hierfür ist allein die mangelnde endgültige wirtschaftliche Belastung des Steuerpflichtigen. Das rückwirkende Ereignis tritt erst dann ein, wenn die Einkommensteuerveranlagung des Erstattungsjahres durchgeführt wird und dann feststeht, dass ein "Erstattungsüberhang" überhaupt abschließend eingetreten ist.
Normenkette
AO § 175 Abs. 1 Nr. 2
Nachgehend
Tatbestand
Die Klägerin wurde in den Streitjahren einzeln zur Einkommensteuer veranlagt. Die Veranlagung für das Jahr 2001 wurde am 28.04.2003, die Veranlagung für das Jahr 2002 am 03.06.2004 durchgeführt.
Mit Wirkung vom 11.12.2002 trat die Klägerin aus der evangelischen Kirche aus.
Mit Schreiben vom 25.05.2004 teilte der Steuerberater der Klägerin dem Beklagten den Kirchenaustritt im Jahre 2002 mit und beantragte die Herabsetzung der für das Kalenderjahr 2003 festgesetzten und gezahlten Kirchensteuervorauszahlungen auf 0 EUR.
Der Beklagte entsprach dem Antrag im Juni 2004 und erstattete die im Kalenderjahr 2003 entrichteten Kirchensteuervorauszahlungen in Höhe von insgesamt 103.118 EUR.
Die Einkommensteuerveranlagung 2003 wurde im April 2005 durchgeführt. Hierbei berücksichtigte das Finanzamt antragsgemäß die geltend gemachten Kirchensteuervorauszahlungen in Höhe von 103.118 EUR.
Am 04.05.2005 ergingen nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) geänderte Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre 2001 und 2002. Hintergrund der Änderungen war eine Außenprüfung in einem Unternehmen, an dem die Klägerin beteiligt war.
Bei Durchführung der Einkommensteuerveranlagung 2004 im Januar 2006 wurde folgender maschineller Veranlagungshinweis ausgegeben:
„Die im Veranlagungszeitraum 2004 erstattete Kirchensteuer übersteigt die gezahlte Kirchensteuer um 114.597 EUR. Es ist zu prüfen, ob der Sonderausgabenabzug des Zahlungsjahres ggf. durch Änderung gemäß § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO um den Erstattungsüberhang zu mindern ist.”
Dieser Erstattungsüberhang berechnete sich wie folgt:
Steuerart und -zeitraum Zahlung/Erstattung Steuerbetrag
Nachzahlung 1999/2000 Nov/Dez. 2004 5.460,98 EUR
Zahlung Kirchensteuer 2002 21.07.2004 94,32 EUR
Zahlung Kirchensteuer 2002 15.12.2004 1.304,28 EUR
Zahlung Kirchensteuervz I/2004 10.03.2004 25.001,00 EUR
Erstattung Kirchensteuer 2001 20.01.2004 -965,32 EUR
Erstattung Kirchensteuer 2001 11.11.2004 -456,76 EUR
Erstattung Kirchensteuer 2002 04.06.2004 -16.917,32 EUR
Erstattung Kirchensteuer 2003 09.06.2004 -103.118,00 EUR
Erstattung Kirchensteuervz I/2004 09.06.2004 -25.001,00 EUR
Summe 114.597,82 EUR
Der Beklagte teilte daraufhin den Erstattungsüberhang auf die Verausgabungsjahre 2001 bis 2003 im Verhältnis der Erstattungen aus diesen Veranlagungsjahren auf und änderte die Einkommensteuerfestsetzungen 2001 und 2002 mit Bescheiden vom 17.05.2006 gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO. Hierin verteilte er den Erstattungsüberhang aus 2004 (114.597 EUR) in der Weise, dass er jeweils die als Sonderausgaben berücksichtigten Kirchensteuerzahlungen minderte, und zwar für 2001 um 2.654 DM (1.357 EUR), für 2002 um 14.812 EUR und für 2003 um 98.426 EUR.
Die Klägerin legte gegen diese Bescheide Einspruch ein. Hinsichtlich der Einkommensteuer 2003 half der Beklagte dem Einspruch ab, da bei der Einkommensteuerveranlagung 2003 im April 2005 der Kirchenaustritt bekannt war. Im übrigen wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Gegen die Einkommensteueränderungsbescheide 2001 und 2002 richtet sich die Klägerin nach insoweit erfolglosem Einspruchsverfahren.
Die Klägerin ist der Ansicht, dass die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht vorliegen. Insbesondere sei der zu ändernde Bescheid vom 04.05.2005 nicht zunächst rechtmäßig und dann durch ein rückwirkendes Ereignis nach seinem Erlass unrichtig geworden, womit ihrer Ansicht nach der Anwendungsbereich der Berichtigungsvorschrift nicht eröffnet sei. Denn § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO stelle nicht allein auf ein rückwirkendes Ereignis ab, sondern auch darauf, dass dieses nachträglich, also nach Erlass des – letzten – Steuerbescheides eingetreten sei. Insofern sei zu unterscheiden zwischen der Frage, ob ein Ereignis steuerliche Rückwirkung habe – was hier in Bezug auf den Kirchensteuererstattungsüberhang auch nicht in Frage gestellt werde – und der konkreten Bescheidlage. Eine Änderung nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO sei nur dann möglich, wenn das Ereignis nachträglich, also nach Erlass des – ggf. zuletzt erlassenen – zu ändernden Bescheides eintrete und diesen letzten Bescheid damit falsch werd...