Entscheidungsstichwort (Thema)
Reichweite des Anspruchs auf Offenlegung der Besteuerungsgrundlagen. Begriff der „Unterlagen der Besteuerung”. Berufung des FG auf Feststellungen zum Tatbestand der Steuerhinterziehung im Strafverfahren. nicht der deutschen Sprache mächtiger Haftungsschuldner. steuerlich erhebliche Tatsachen. Ermessen bei Haftungsinanspruchnahme von Mittätern
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Anspruch aus § 364 AO dient der Gewährleistung des rechtlichen Gehörs. Der Begriff der „Unterlagen der Besteuerung” ist grundsätzlich weit auszulegen. Er erstreckt sich auf alle Schriftstücke und Daten, die geeignet sind, die Sachverhaltsaufklärung zu beeinflussen. Dem als Haftenden in Anspruch Genommenen ist der Inhalt dieser Akten insoweit zugänglich zu machen, als diese für die Inanspruchnahme im Wege der Haftung erheblich sein können. Nicht offenzulegen sind jedoch solche Unterlagen, die dem Beteiligten schon vorliegen.
2. Für die Frage, ob der Tatbestand der Steuerhinterziehung erfüllt ist und eine Haftung nach § 71 AO begründet, kann sich das FG die tatsächlichen Feststellungen, die Beweiswürdigung und die rechtliche Beurteilung des Strafverfahrens zu eigen machen, wenn nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung diese Feststellungen zutreffend sind. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Tatsachen, auf die es ankommt, bereits im Strafverfahren rechtskräftig festgestellt worden sind, die Beteiligten gegen diese Feststellungen keine substantiierten Einwendungen erheben und für das Gericht kein Grund besteht, gleichwohl eine weitere Aufklärung vorzunehmen.
3. Der Beteiligte hat keinen Anspruch darauf, dass ihm von Amts wegen ein Dolmetscher gestellt wird oder dass ihm für das Verfahren erhebliche Schriftstücke von Amts wegen übersetzt werden. Vielmehr hat er selbst für eine Übersetzung Sorge zu tragen oder das Schriftstück einem sprachkundigen Bevollmächtigten zur weiteren Bearbeitung zu übergeben.
4. Tatsachen sind steuerlich erheblich im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO, wenn sie auf die Entstehung, Höhe oder Fälligkeit der Steuer oder das Erlöschen des Steueranspruchs von Einfluss sind. Es muss sich nicht um Tatsachen handeln, die den Tatbestand einer auf den konkreten Steuerausfall anzuwendenden Steuerrechtsnorm ausfüllen.
5. Die Inanspruchnahme des Täters oder des Gehilfen einer vorsätzlichen Steuerhinterziehung nach §§ 191, 71 AO ist auch ohne nähere Darlegung der Ermessenserwägungen ermessensgerecht. Das gilt, wenn mehrere Mittäter vorhanden sind, auch für die Inanspruchnahme des einzelnen Mittäters.
Normenkette
AO §§ 71, 364, 370 Abs. 1 Nr. 1, §§ 191, 5; FGO § 69 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 1
Nachgehend
Tenor
Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Beschwerde wird zugelassen.
Streitwert: EUR 476.082.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten um die Aussetzung der Vollziehung eines Haftungsbescheides.
1.
Der Antragsteller, ein unstreitig der deutschen Sprache nicht mächtiger tschechischer Staatsbürger, war Alleingesellschafter und Geschäftsführer der am 20.08.2013 gegründeten A Limited. Im Jahr 2013 wurde außerdem die B GmbH gegründet. Die A Limited erwarb das Grundstück … von der C KG und verpachtete es an die B GmbH. Die B GmbH stellte auf dem Gelände die Produkte Cleanol-7 und Mol-F her.
Gegen den Antragsteller und mehrere andere Personen wurde im Zusammenhang mit der Herstellung und dem Vertrieb dieser beiden Produkte ein Ermittlungsverfahren wegen Steuerhinterziehung geführt. Am 19.10.2016 fand bei der B GmbH eine Durchsuchungsmaßnahme statt. Der Antragsteller wurde sodann durch Urteil des Landgerichts D vom 06.07.2018 wegen Steuerhinterziehung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Das Urteil wurde durch Zurückweisung der Revision rechtskräftig. Es beruhte auf den folgenden Feststellungen:
Der Antragsteller habe gemeinsam mit dem Mitangeklagten E von Anfang an den Plan verfolgt, die in F hergestellten Produkte gegenüber dem Hauptzollamt als Reinigungs- und Schmiermittel zu deklarieren, sie aber tatsächlich zur Verwendung als Kraftstoff oder Kraftstoffzusatz in Verbrennungsmotoren abzugeben. Es sei beabsichtigt gewesen, die dadurch entstehende Energiesteuer zu hinterziehen; daher seien die Produkte zur Verdeckung als Reinigungs- und Schmiermittel deklariert worden.
Bei dem Antragsgegner seien die Produkte wie folgt in die Kombinierte Nomenklatur (KN) Stand 01.01.2002 eingeordnet worden:
Cleanol-7: Unterposition 27101999 KN „andere Schmieröle und andere Öle”)
Mol-F: Unterposition 3824 9097 (3824 9097) KN „Zubereitete Bindemittel für Gießereiformen oder -kerne; chemische Erzeugnisse und Zubereitungen der chemischen Industrie oder verwandter Industrien (einschließlich Mischungen von Naturprodukten), anderweit weder genannt noch inbegriffen: andere”)
Der Antragsgegner habe der B GmbH am 16.10.2014 eine Erlaubnis zur steuerfreien Verwendun...