Dipl.-Kfm. Jens Schönfeld
„ [2] Satz 1 findet keine Anwendung, ...”
Rz. 501
Regelungsstruktur. Satz 2 ist als Ausnahmeregelung zu Satz 1 konzipiert und schließt bei Vorliegen seiner Tatbestandsvoraussetzungen die Anwendung des Satzes 1 aus. Das bedeutet, dass die Anwendung von Satz 1 unter dem Vorbehalt steht, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des Satzes 2 nicht erfüllt sind. Dabei enthält Satz 2 (getrennt durch das "oder") zwei eigenständige Ausnahmetatbestände (Alternativen):
- Satz 2 Alt. 1 enthält den sog. Gegenbeweis in Form eines Principal Purpose Tests (PPT).
- Satz 2 Alt. 2 enthält die sog. Börsenausnahme.
Es ist zu beachten, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des Satzes 2 Alt. 1 (PPT; nicht aber der Alt. 2, vgl. Rz. 510, 516) nur erfüllt sind, wenn die Körperschaft deren Vorliegen "nachweist"; das "nachweist" ist selbst materielle Tatbestandsvoraussetzung und statuiert eine subjektive Beweislast (Beweisführungslast, vgl. Rz. 517). Die übrigen Voraussetzungen des Satzes 2 Alt. 1 (= kein steuerlicher Hauptzweck) sind daher keine von Amts wegen zu berücksichtigende negative Tatbestandsmerkale für die Versagung nach Satz 1: Weist die Körperschaft das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des Satzes 2 Alt. 1 – aus welchen Gründen auch immer – nicht nach, findet Satz 1 uneingeschränkt Anwendung, auch wenn die übrigen Tatbestandsvoraussetzungen des Satzes 2 Alt. 1 (kein steuerlicher Hauptzweck) materiell vorliegen. Satz 1 trägt insoweit die Rechtsfolge der Versagung der Entlastung eigenständig. Die Börsenausnahe des Satzes 2 Alt. 2 ist hingegen ein von Amts wegen zu berücksichtigendes negatives Tatbestandsmerkmal; zur Beweislast (Feststellungslast) hinsichtlich der Börsenausnahme s. Rz. 628. S. zur Bedeutung des "soweit" und des "wenn"Rz. 510.
Rz. 502
Zeitliche Anwendung. In der praktischen Anwendung des PPT ist zu beachten, dass dieser im Freistellungsverfahren bereits vor dem Zeitpunkt geführt wird, in dem die Tatbestandsvoraussetzungen des Satzes 1 erfüllt werden (d.h. vor Entstehen des Entlastungsanspruchs bei Zufluss der Kapitalerträge, vgl. Rz. 611). Befindet man sich hingegen im Erstattungsverfahren, so ist bei der Anwendung des Satzes 2 die Rechtsfolge des Satzes 1 bereits eingetreten, nämlich im Zeitpunkt des Entstehens des Entlastungsanspruchs. Werden in diesem Fall die Voraussetzungen des Satzes 2 Alt. 1 nachgewiesen, so findet Satz 1 rückwirkend keine Anwendung mehr und der Entlastungsanspruch lebt rückwirkend wieder auf, d.h. er wurde nie nach Satz 1 versagt. Eine Wirkung ex nunc (in die Zukunft) wäre nicht sachgerecht, da bei erfolgreichem Führen des Gegenbeweises feststeht, dass für den Zeitpunkt des Entstehens des Entlastungsanspruchs kein Missbrauch vorlag.
Rz. 503
Rechtsfolge: Keine Anwendung des Satzes 1. Die Rechtsfolge des Satzes 2 ist, dass Satz 1 "keine Anwendung" findet. Die Anwendung des § 50d Abs. 3 Satz 1 EStG bedeutet, dass die FinVerw oder ein Gericht dessen Rechtsfolgen für einen Sachverhalt, der tatbestandlich unter Satz 1 fällt, real durchsetzt, d.h. die Entlastung von der Kapitalertragsteuer oder dem Steuerabzug nach § 50a EStG versagt. Die Rechtsfolge des Satzes 2 ("Satz 1 findet keine Anwendung") ordnet hingegen an, dass die FinVerw oder ein Gericht, obwohl die tatbestandlichen Voraussetzungen des Satzes 1 für sich betrachtet erfüllt sind, die Entlastung von der Kapitalertragsteuer oder dem Steuerabzug nach § 50a EStG nicht nach Satz 1 versagen darf, "soweit" (vgl. Rz. 510 ff.) die Tatbestandsvoraussetzungen des Satzes 2 Alt. 1 (PPT) und "wenn" (vgl. Rz. 585) die Tatbestandsvoraussetzungen des Satzes 2 Alt. 2 (Börsenklausel) vorliegen. Satz 2 setzt dabei denklogisch voraus, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des Satzes 1 erfüllt sind. Satz 1 und Satz 2 stehen daher in einem Stufenverhältnis, das sich auch im Prüfungsschema zu § 50d Abs. 3 EStG widerspiegelt (vgl. Rz. 72).