Zeitpunkt der Berücksichtigung des Gewinns aus einem Wegzugsteuertatbestand
Hintergrund: Wegzugsteuer nach § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG
Bei einer natürlichen Person, die insgesamt mindestens zehn Jahre unbeschränkt steuerpflichtig war und deren unbeschränkte Steuerpflicht durch Aufgabe des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts endet, ist im Zeitpunkt der Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht § 17 EStG (Gewinn aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften) auch ohne Veräußerung anzuwenden, wenn im Übrigen für die Anteile zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt sind (§ 6 Abs. 1 Satz 1 AStG), sogenannte Wegzugsteuer.
Der erstmals ab dem VZ 2007 geltende Ersatztatbestand des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG soll zudem "alle sonstigen Fälle" erfassen, in denen Deutschland nach einem DBA den Veräußerungsgewinn freistellen oder die ausländische Steuer anrechnen muss. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers sind dies insbesondere Fälle, in denen das geltende DBA dem ausländischen Ansässigkeitsstaat der Kapitalgesellschaft ein Besteuerungsrecht zuweist (BT-Drs.16/3369, S. 14).
Sachverhalt: „Wesentliche“ Beteiligung an spanischen Immobilienkapitalgesellschaft
- Die Eltern des in Deutschland ansässigen Klägers waren Eigentümer eines in Spanien belegenen Ferienhauses.
- Sie brachten diese Immobilie gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten in eine Kapitalgesellschaft spanischen Rechts (S.L.) ein.
- Im Jahr 2006 übertrugen die Eltern dem Kläger und dessen Bruder jeweils 24% der Anteile an der S.L., behielten sich allerdings den Nießbrauch vor.
- Kurze Zeit nach Abgabe seiner Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 2013 setzte der Kläger das Finanzamt (FA) mit einem als "Berichtigungserklärung gemäß § 153 AO" benannten Schreiben über den Erwerb des Ferienhauses, dessen Einbringung in die S.L. und die Übertragung der Gesellschaftsanteile in Kenntnis.
- Am 29.6.2015 änderte das FA die Einkommensteuerfestsetzung 2013 und berücksichtigte erstmals einen Entstrickungsgewinn als Einkünfte aus Gewerbebetrieb.
Im Urteilfall war u.a. fraglich, ob ein Gewinn für eine sog. passive Entstrickung einer spanischen Immobilienkapitalgesellschaft durch Änderung des DBA Spanien berücksichtigt werden kann.
Änderung des DBA Spanien zum 1.1.2013
- Nach Art. 13 Abs. 3 des ursprünglichen DBA Spanien v. 5.12.1966 (BGBl II 1968, 9, BGBl II 1968, 140) konnten Gewinne aus der Veräußerung bestimmter Vermögensgegenstände, zu denen auch Anteile an Kapitalgesellschaften gehörten, nur in dem Vertragsstaat besteuert werden, in dem der Veräußerer ansässig war.
- Dagegen sieht das am 1.1.2013 in Kraft getretene DBA Spanien in Art. 13 Abs. 2 vor, dass Gewinne, die eine in einem Vertragsstaat ansässige Person aus der Veräußerung von Anteilen an einer Gesellschaft erzielt, deren Aktivvermögen zu mindestens 50 % unmittelbar oder mittelbar aus unbeweglichem Vermögen besteht, das im anderen Vertragsstaat liegt, (nunmehr auch) im anderen Staat besteuert werden können.
- Zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung aufgrund des fortbestehenden Besteuerungsrechts Deutschlands besteht die Pflicht, die gezahlte spanische Steuer auf die deutsche Steuer anzurechnen (Art. 22 Abs. 2 Buchst. b Doppelbuchst. ii DBA Spanien sowie § 34c Abs. 6 Satz 2 EStG).
Ob bereits die Einführung einer Anrechnungsverpflichtung durch ein revidiertes DBA zu einer Beschränkung des Besteuerungsrechts führt und damit den Tatbestand des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG erfüllt (sog. passive Entstrickung), wird nicht einheitlich beurteilt.
Auffassung der Finanzverwaltung
Die Finanzverwaltung vertritt die Ansicht, dass § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG – ebenso wie für Fälle des Betriebsvermögens § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG und § 12 Abs. 1 KStG – unabhängig von einer aktiven Handlung des Steuerpflichtigen nur durch eine Änderung der rechtlichen Ausgangssituation ausgelöst werde (BMF, Schreiben v. 26.10.2018, BStBl I 2018, 1104, Tz 1; ebenso BMF-Schreiben vom 22.12.2013, BStBl 2023, Sondernummer 1/2023, 2, Rz. 88).
Gegenansicht in der Literatur
Nach anderer Auffassung müsse der zu weit geratene Wortlaut des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG teleologisch reduziert werden. Zum einen genüge für eine Beschränkung des deutschen Steuerrechts nicht die nur abstrakte Verpflichtung, im (späteren) Veräußerungsfall ausländische auf die inländische Steuer anzurechnen (Häck in Flick/Wassermeyer/Baumhoff/Schönfeld, Außensteuerrecht, Lfg. 93, April 2020, § 6 AStG Rz 354). Vielmehr sei zum Zeitpunkt des Eintritts des tatbestandsrelevanten Ereignisses zu fragen, ob eine konkrete Gefahr der Anrechnung ausländischer Steuer bestehe, was nicht der Fall sei, wenn der ausländische Quellenstaat zu jenem Zeitpunkt keine Besteuerung von Veräußerungsgewinnen vorsehe (Möller-Gosoge in Haase, AStG/DBA, 3. Aufl., § 6 AStG Rz 113). Zum anderen könne ein Ereignis im Sinne von § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG kein solches sein, das ohne aktives Zutun des Steuerpflichtigen, sondern nur durch staatliches Handeln in Gestalt einer Rechtsänderung einen Besteuerungstatbestand gemäß § 38 AO begründe (Binnewies/Wollweber, Deutsches Steuerrecht 2014, 628, 632; Brandis/Heuermann/Pohl, § 6 AStG Rz 61).
Entscheidung: Keine Rechtsgrundlage für Entstrickungsgewinn im Streitjahr 2013
Im Ergebnis hat die Vorinstanz zutreffend befunden, dass für das Streitjahr keine materielle Rechtsgrundlage bestand, einen Entstrickungsgewinn als Einkünfte aus Gewerbebetrieb zu berücksichtigen.
Der BFH musste im Urteilsfall aber nicht entscheiden, welcher der vorgenannten Ansichten zur „passive Entstrickung“ er folgt. Selbst wenn auch diese dem Tatbestand des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG unterfielen, wäre der vom Finanzamt im Urteilsfall ermittelte Gewinn im Streitjahr 2013 nicht als Einkünfte aus Gewerbebetrieb zu erfassen.
Hierbei kann wiederum offenbleiben, ob der Kläger als nießbrauchsbelasteter Inhaber der Anteile an der Gesellschaft überhaupt Subjekt einer Wegzugsbesteuerung sein kann. Bejahendenfalls wäre dies allenfalls im Veranlagungszeitraum (VZ) 2012 zu berücksichtigen gewesen.
Hierzu führt der BFH weiter aus:
- Die Beteiligten gehen offenkundig davon aus, dass der Kläger infolge der Übertragung von Anteilen durch die Eltern im Jahr 2006 eine relevante Beteiligung im Sinne von § 17 Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 EStG erlangt hat und somit als unbeschränkt einkommensteuerpflichtige Person grundsätzlich Subjekt einer Wegzugsbesteuerung gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 und § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG hätte sein können.
- Hieran trifft zu, dass es sich bei der S.L. um eine der GmbH typen-vergleichbare ausländische Kapitalgesellschaft handelt, die für den Gesellschafter eine "ähnliche Beteiligung" im Sinne von § 17 Abs. 1 Satz 3 EStG vermittelt.
- Zwischen den Beteiligten steht zu Recht auch nicht im Streit, dass die S.L. eine Immobilien-Kapitalgesellschaft im Sinne von Art. 13 Abs. 2 DBA Spanien ist, bei der Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen seit dem 1.1.2013 auch im Quellenstaat (Spanien) besteuert werden können.
- Das FG hat allerdings nicht geprüft, ob dem Kläger in Anbetracht des Nießbrauchvorbehalts der Eltern die Beteiligung steuerrechtlich überhaupt zuzurechnen war. Dies wäre ausgeschlossen, wenn die Beteiligung in der wirtschaftlichen Inhaberschaft (§ 39 Abs. 2 Nr. 1 AO) der Eltern verblieben wäre (vgl. hierzu BFH v. 24.1.2012, IX R 51/10, BStB.l II 2012, 308, Rz .15 ff.).
- Selbst wenn dem Kläger die Beteiligung für Zwecke des § 6 AStG, § 17 EStG steuerrechtlich zuzurechnen gewesen wäre, verböte sich jedoch der Ansatz eines Entstrickungsgewinns.
Entstrickungsgewinn hätte 2012 erfasst werden müssen
Ein Entstrickungsgewinn hätte im Urteilsfall gemäß § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG nicht im Streitjahr 2013, sondern im vorangegangenen VZ 2012 erfasst werden müssen. Das revidierte DBA Spanien ist gemäß Art. 30 Abs. 2 Buchst. b DBA Spanien erstmals zum 1.1.2013 anzuwenden. Ein Entstrickungsgewinn gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 und 3 EStG, § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG wäre daher mit Ablauf des 31.12.2012 zu berücksichtigen gewesen.
- Die Wegzugsteuer tritt nach § 6 Abs. 1 Satz 1 AStG im „Zeitpunkt der Beendigung der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht“ ein.
- Der BFH hat bereits klargestellt, dass der Steuerzugriff letztmals an der unbeschränkten Steuerpflicht des Wegziehenden anknüpft und eben nicht als deren erster Akt nach Eintritt der beschränkten Steuerpflicht erfolgt (BFH, Beschluss v. 23.9.2008, I B 92/08, BStBl. II 2009, 524, unter II.2.c). Besteuert wird somit in der letzten juristischen Sekunde der unbeschränkten Steuerpflicht des Wegziehenden.
- Für den Ersatztatbestand des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG, der den Ausschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts Deutschlands einer Beendigung der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht gleichstellt, gilt zur Überzeugung des Senats im Ergebnis nichts anderes.
- Ein Entstrickungsgewinn ist somit in dem Zeitpunkt in Ansatz zu bringen, in dem Deutschland abkommensrechtlich letztmalig das (unbeschränkte) Besteuerungsrecht für einen Veräußerungsgewinn inne hatte.
- Die gegenteilige – allerdings nicht begründete – Ansicht der Finanzverwaltung, die insoweit den Zeitpunkt der erstmaligen Anwendbarkeit des erstmals abgeschlossenen oder revidierten DBA für maßgeblich hält (BMF, Schreiben v. 26.10.2018, BStBl I 2018, 1104, T.z 1), ist mit den obigen Ausführungen zum Grundtatbestand des § 6 Abs. 1 Satz 1 AStG nicht in Einklang zu bringen.
Hinweis: Klarstellung durch den Gesetzgeber mit dem ATADUmsG
Das vom BFH vertretene Verständnis wird inzwischen auch vom Gesetzgeber getragen. Durch das ATAD-Umsetzungsgesetz (ATADUmsG) v. 25.6.2021 (BGBl I 2021, 2035) wurde für Fälle des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG (jetzt § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AStG) erstmals ausdrücklich – grundsätzlich mit Wirkung zum VZ 2022 – festgelegt, dass die "Veräußerung" unmittelbar vor dem Zeitpunkt, zu dem der Ausschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts eintritt, erfolgt (§ 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AStG i.d.F. des ATADUmsG). In der Gesetzesbegründung wird angeführt, dass die fingierte Veräußerung im Fall eines beispielsweise zum 1.1.01 anzuwendenden DBA mit Ablauf des 31.12.00 erfolge (BT-Drs. 19/28652, S. 48). Nach den Ausführungen des BFH in seinen Entscheidungsgründen handelt es sich dabei um eine Klarstellung der schon zuvor geltenden Rechtslage. Anhaltspunkte für eine Kehrtwende in der rechtlichen Beurteilung des maßgeblichen Zeitpunkts für die Besteuerung eines Entstrickungsgewinns gemäß § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG finden sich in der Gesetzesbegründung jedenfalls nicht.
BFH, Urteil v. 16.4.2024, IX R 38/21; veröffentlicht am 16.8.2024
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