Dr. Nils Häck, Dr. Julian Böhmer
Rz. 476
Begriff der passiven Entstrickung. Eine der intensivsten Debatten wird – wie auch zu den anderen Entstrickungsvorschriften (v.a. zu § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG) – zu der Frage geführt, ob ein Ausschluss oder eine Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts i.S.v. § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 an den Gewinnen aus der Veräußerung der Anteile i.S.v. § 17 Abs. 1 EStG auch dann zu bejahen ist, wenn der Steuerzugriff des Staates nicht durch ein Handeln des Steuerpflichtigen, sondern durch ein von ihm nicht beeinflussbares Ereignis gesetzgeberischen Handelns eingeschränkt wird (sog. passive Entstrickung), wie bspw. durch den Neuabschluss oder die Revision eines DBA. Dies betrifft in der Praxis v.a. die Fälle, in denen im Rahmen einer Abkommensrevision erstmals eine sog. Immobiliengesellschaftsklausel (s. Rz. 118) eingeführt wird oder bestehende Immobiliengesellschaftsklauseln geändert werden (s. hierzu die Beispiele in Rz. 479 ff.). Folge ist dann i.d.R., dass Deutschland als Ansässigkeitsstaat des Anteilseigners die Veräußerungsgewinne nicht mehr uneingeschränkt besteuern darf, sondern die dann nach DBA zulässige Steuer des anderen Vertragsstaats anrechnen muss (s. Beispiel in Rz. 478 ff.). Dies kann sich für Anteile an deutschen wie ausländischen Immobiliengesellschaften ergeben. Im Anschluss an das BEPSMLIAnwG v. 19.6.2024 sind passive Entstrickungen durch das revidierte DBA mit der Slowakei denkbar. Erwartbar ist auch eine entsprechende Änderung des DBA mit Italien. Für das DBA mit Südafrika steht eine solche kurz bevor (s. Beispiel in Rz. 479). Unabhängig davon wird der abkommensrechtliche Trend, erstmalig Immobiliengesellschaftsklauseln in den DBA zu verankern, weiter Bestand haben. Bejaht man in diesen Fällen eine Anwendung des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, können die steuerlichen Auswirkungen für den – untätig gebliebenen – Steuerpflichtigen verheerend sein. Dass die Besteuerung einer solchen durch den deutschen Gesetzgeber selbst ausgelöste "Beschränkung" seines Besteuerungsrechts unbillig ist, liegt auf der Hand.
Rz. 477
Tatbestandsmäßigkeit i.S.v. § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3. Der Wortlaut des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 stellt tatbestandlich lediglich darauf ab, ob das deutsche Besteuerungsrecht an den Gewinnen aus der Veräußerung der Anteile ausgeschlossen oder beschränkt wird. Hierdurch werden prima facie auch Sachverhalte erfasst, in denen der Ausschluss oder die Beschränkung ausschließlich der Sphäre des Gesetzgebers entstammt. Der Wortlaut des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 selbst enthält insoweit keinen Anhaltspunkt, dass es auf ein Handeln oder zumindest ein rechtserhebliches Unterlassen ankommt. Dieses Ergebnis entspricht dem bereits bisher zu § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 a.F. und weiterhin unverändert bestehenden Verständnis der Finanzverwaltung, dem gesetzgeberischen Verständnis bei der Einführung des § 6 Abs. 5 Satz 3 Nr. 4 a.F. sowie dem Willen des Gesetzgebers zu § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3. Entsprechende Hinweise finden sich teilweise auch in den sog. Denkschriften zu einem revidierten DBA. Dem Sinn und Zweck der Regelung, deutsches Besteuerungssubstrat zu sichern, entspricht auch eine Besteuerung bei passiver Entstrickung, da der deutsche Fiskus bei Freistellungsverpflichtung oder je nach Höhe der anzurechnenden ausländischen Steuer Gefahr läuft, spätere Veräußerungsgewinne rechtlich bzw. faktisch nicht mit einer Steuer belegen zu können. Dass es auch für § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 wie auch § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 einer dem Steuerpflichtigen zurechenbaren Handlung bedarf, lässt sich aber systematisch begründen: Der frühere Grundtatbestand des § 6 Abs. 1 Satz 1 a.F. setzte eine Handlung des Steuerpflichtigen (Aufgabe des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts) zur "Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht" voraus. Die Ersatztatbestände i.S.v. § 6 Abs. 1 Satz 2 a.F. "stehen der Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 a.F. gleich". Die Tatbestände des § 6 Abs. 1 Satz 1 "stehen" einer Veräußerung "gleich". Dies zeigt doch – ebenso wie bei der an eine dem Steuerpflichtigen zurechenbare "Entnahme" i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG anknüpfenden "fiktiven Entnahme" i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG – die im Gesetz selbst angelegte Beschränkung auf Fälle, in denen der Tatbestand durch ein dem Steuerpflichtigen zurechenbares Handeln erfüllt wird. Ungeachtet dessen bleiben die verfassungsrechtlichen wie europarechtlichen Bedenken, ob im Ergebnis § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 a.F. bzw. § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 durchgreifen kann oder nicht (s. Rz. 478). Zu § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 a.F. und zu § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG konnte der BFH die Frage bisher (noch) offen lassen.
Rz. 478
Bedenken. Eine Besteuerung aufgrund passiver Entstrickung wirft europarechtliche und verfassungsrechtliche Fragen auf. Sie verstößt gegen das Willkürverbot und das gleichheitsrechtliche Gebot der Folgerichtigkeit, wenn sie ein...