Prof. Dr. Georg Schnitter
Rz. 30
Die §§ 55a und 55b GewO nennen einzelne Privilegierungstatbestände, unter deren Voraussetzungen der Gewerbetreibende keiner Reisegewerbekarte bedarf. Bei gemischten Tätigkeiten ist hinsichtlich der Frage, ob eine Reisegewerbekarte erforderlich ist oder nicht, auf den Schwerpunkt der Leistung abzustellen. Wird nach § 55a bzw. § 55b GewO keine Reisegewerbekarte benötigt, liegt ein stehender Gewerbebetrieb vor.
Rz. 31
Nach § 55a Abs. 1 Nr. 1 GewO bedarf einer Reisegewerbekarte nicht, wer gelegentlich – und nicht auf – der Veranstaltung von Messen, Ausstellungen, öffentlichen Festen oder aus besonderem Anlass mit Erlaubnis der zuständigen Behörde Waren feilbietet. Es muss ein zeitlicher und örtlicher Zusammenhang zwischen dem Feilbieten der Waren und den genannten Veranstaltungen bestehen. Unter den Begriff "öffentliche Feste" fallen nicht nur Volksfeste i. S. d. § 60b GewO, sondern alle Veranstaltungen, zu denen ein großer Publikumskreis Zugang hat und die der allgemeinen Verlustierung dienen. Hierzu gehören z. B. auch Schützen- oder Kirchweihfeste. Ein besonderer Anlass liegt vor, wenn die Tätigkeit an ein kurzfristiges, nicht häufig auftretendes und nicht alltägliches Ereignis anknüpft, das zunächst in keinem Zusammenhang mit der Tätigkeit steht. Erfasst werden z. B. Sportveranstaltungen und Staatsbesuche. Die Privilegierung tritt nur ein, wenn eine Erlaubnis der zuständigen Behörde vorliegt. Sie betrifft ausschließlich das Feilbieten von Waren.
Rz. 32
Nach § 55a Abs. 1 Nr. 2 GewO bedarf einer Reisegewerbekarte nicht, wer selbstgewonnene Erzeugnisse der Land- und Forstwirtschaft, des Gemüse-, Obst- und Gartenbaus, der Geflügelzucht und Imkerei sowie der Jagd und Fischerei vertreibt. Privilegiert wird der Vertrieb selbstgewonnener Erzeugnisse. Selbst gewonnen sind Erzeugnisse, die von den jeweiligen Anbietern aus eigener Produktion gewonnen oder in eigener Produktion hergestellt worden sind. Erfasst werden auch verarbeitete Produkte. Voraussetzung ist allerdings, dass sie ausschließlich aus selbst erzeugten Grundstoffen bestehen, im Betrieb des Erzeugers hergestellt worden sind und die Grenze zu einer fabrikmäßigen Herstellung nicht überschritten ist. Selbst gewonnen in der Jagd und Fischerei sind diejenigen Erzeugnisse, die der jeweils Berechtigte – z. B. der Pächter – oder sein Beauftragter selbst erlegt, gefangen oder geangelt hat. Privilegiert sind sowohl das Feilbieten von Waren als auch das Aufsuchen von Bestellungen von Waren. Zu beachten ist, dass es sich um eine gewerbliche Tätigkeit handeln muss.
Rz. 33
Nach § 55a Abs. 1 Nr. 3 GewO bedarf einer Reisegewerbekarte nicht, wer Tätigkeiten der in § 55 Abs. 1 Nr. 1 GewO genannten Art in der Gemeinde seines Wohnsitzes oder seiner gewerblichen Niederlassung ausübt, sofern die Gemeinde nicht mehr als 10.000 Einwohner zählt. Die Privilegierung ist auf die Heimatgemeinde des Gewerbetreibenden beschränkt, sofern diese nicht mehr als 10.000 Einwohner hat. Sie beschränkt sich auf Tätigkeiten nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 GewO.
Rz. 34
Nach § 55a Abs. 1 Nr. 5 GewO bedarf einer Reisegewerbekarte nicht, wer aufgrund einer Erlaubnis nach § 4 MilchMargG Milch oder bei dieser Tätigkeit auch Milcherzeugnisse abgibt. Privilegiert ist nur die Abgabe i. S. eines Verkaufs mit sofortiger Übergabe. Der Begriff "Milcherzeugnisse" ist in § 2 Abs. 1 Nr. 2 MilchMargG definiert. Die Abgabe von Milcherzeugnissen wie z. B. Buttermilch, Butter, Käse oder Joghurt ist nur dann privilegiert, wenn zugleich auch Milch abgegeben wird. Maßgebend hierfür ist nur, dass der Gewerbetreibende generell auch Milch abgibt.
Rz. 35
Nach § 55a Abs. 1 Nr. 6 GewO bedarf einer Reisegewerbekarte nicht, wer Versicherungsverträge als Versicherungsvermittler i. S. d. § 34d Abs. 6 oder Abs. 7 GewO oder Bausparverträge vermittelt oder abschließt oder Dritte als Versicherungsberater i. S. d. § 34d Abs. 2 i. V. m. Abs. 7 GewO über Versicherungen berät. Privilegiert sind die Vermittlung und der Abschluss von Versicherungs- und Bausparverträgen.
Rz. 36
Nach § 55a Abs. 1 Nr. 7 GewO bedarf einer Reisegewerbekarte nicht, wer ein nach Bundes- oder Landesrecht erlaubnispflichtiges Gewerbe ausübt, für dessen Ausübung die Zuverlässigkeit erforderlich ist, und über die erforderliche Erlaubnis verfügt. Die Privilegierung erstreckt sich auf sämtliche erlaubnispflichtigen Gewerbe, soweit deren Erlaubnis das Genehmigungserfordernis der Zuverlässigkeit verlangt und die Genehmigung auch erteilt wurde.
Rz. 36a
Nach § 55a Abs. 1 Nr. 8 GewO bedarf einer Reisegewerbekarte nicht, wer i. S. d. § 34f Abs. 3 Nr. 4 GewO – auch i. V. m. § 34h Abs. 1 S. 4 GewO – Finanzanlagen als Finanzanlagenvermittler vermittelt und Dritte über Finanzanlagen berät. Gleiches gilt für die in dem Gewerbebetrieb beschäftigten Personen.
Rz. 36b
Nach § 55a Abs. 1 Nr. 8a GewO bedarf einer Reisegewerbekarte nicht, wer i. S. d. § 34i Abs. 4 GewO – auch i. V. m. § 34i Abs. 5 GewO – Immobiliendarlehensverträge vermittelt und Dritte zu solchen Verträgen berät.
Rz. 37
Nach §...