Jürgen Berners, Dipl.-Finanzwirt Werner Becker
Das BVerfG unterscheidet in der Entscheidungsformel in ständiger Rechtsprechung zwischen der Nichtigkeit und der Unvereinbarkeit von Gesetzen mit der Verfassung. Die Nichtigerklärung führt zur automatischen Eliminierung einer Norm aus dem Rechtsbestand.
Im Fall der Unvereinbarkeitserklärung eröffnet sich dem BVerfG dagegen ein differenzierter Handlungsspielraum mit der Möglichkeit, Ausnahmen vom Grundsatz der Rückwirkung seiner Entscheidungen zu machen oder sogar eine (befristete) Weitergeltung der betroffenen Normen anzuordnen (Wirkung pro futuro).
Das BVerfG macht regelmäßig von der Unvereinbarkeitserklärung Gebrauch, wenn dies notwendig ist, einen gesetzgeberischen Handlungsspielraum zu wahren oder die Entstehung eines Zustands zu verhindern, der den verfassungsrechtlichen Vorgaben noch ferner steht als die vorübergehende Weitergeltung der fraglichen Norm.
In Bezug auf verfassungswidrige Steuergesetze sieht das BVerfG regelmäßig von der Nichtigerklärung ab, wenn ansonsten eine verlässliche Finanz- und Haushaltsplanung gefährdet oder ein gleichmäßiger Verwaltungsvollzug nicht möglich ist. Damit berücksichtigt es in ständiger Rechtsprechung die administrativen und fiskalischen Auswirkungen seiner Entscheidungen und ist so bestrebt, wichtige staatliche Belange zu berücksichtigen.
Gleichzeitig nimmt es im Rahmen befristeter Weitergeltungsanordnungen auch auf das gesetzgeberische Vorrecht Rücksicht und räumt dem Parlament regelmäßig einen ausreichenden zeitlichen Spielraum zur Korrektur der Gesetzesmängel ein (vgl. Prof. Dr. Friedhelm Haufen, Beschränkung von Urteilsauswirkungen im Falle der Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Rechtsnomen – Rechtsvergleichende Untersuchung über die Rechtslage in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Auftrag des BMF, www.bundesfinanzministerium.de).
Nichtigkeit oder Unvereinbarkeit schwierig abzugrenzen
Schon begrifflich ist eine solche Unvereinbarkeitserklärung kaum verständlich, weil eine Regelung, die mit der Verfassung unvereinbar ist, eigentlich nicht fortgelten darf. Auch in der Sache selbst will es einem juristischen Laien wohl kaum einleuchten, dass etwas Verfassungswidriges weiter Bestand haben soll. Selbst angesehene Juristen haben Schwierigkeiten, das "unkalkulierbare Lotteriespiel", ob im Fall "Nichtigkeit" oder "Unvereinbarkeit", dogmatisch zu begründen (vgl. Prof. Dr. Klaus Offerhaus, Präsident des BFH a. D., Ungerechte Kostenentscheidung bei Weitergeltungsanordnung des BVerfG, DB 2018, M4-M5).
Steuerbürger bei Weitergeltungsanordnung nur zweiter Sieger
Diese (pro futuro) Rechtsprechung des BVerfG zeigt einerseits dem Gesetzgeber immer wieder Grenzen des Steuerzugriffs auf. Andererseits erklärt es den Bürger bei seiner aktuellen Rechtsschutzsuche zum zweiten Sieger. Dem Steuerbürger, der nach vielen Jahren – etwa in der Vergangenheit bei der Erbschaft- und Schenkung- oder der Grundsteuer – vom BVerfG den Bescheid erhält, er sei wegen eines verfassungswidrigen Steuergesetzes zu Unrecht steuerlich belastet worden, wird gleichzeitig mitgeteilt, er müsse diese Belastung gleichwohl hinnehmen, weil das verfassungswidrige Gesetz noch eine Zeit lang anzuwenden sei (vgl. Michael Balke, Effektiver Rechtsschutz gegen verfassungswidrige Steuergesetze – Zugleich ein Aufruf für den Einsatz des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die grundgesetzwidrige pro-futuro-Rechtsprechung des BVerfG, Festschrift für Joachim Lang zum 70. Geburtstag, Verlag Dr. Otto Schmidt, Köln, 1. Aufl. 2010, S. 965 ff.).
Kein rechtsfreier Raum
Die Entscheidung, dass ein ganzes Steuergesetz oder einzelne Normen eines Steuergesetzes trotz Verfassungswidrigkeit fortgelten, ist gleichwohl hinzunehmen, weil für die Beseitigung des Verfassungsverstoßes mehrere Möglichkeiten in Betracht kommen, sodass eine Aktivität des Gesetzgebers erforderlich ist. Das BVerfG will und kann, wie es wiederholt entschieden hat, keinen rechtsfreien Raum (z. B. keine Erbschaftsteuer) entstehen lassen. Der klagende Steuerpflichtige hat insoweit ein "Sonderopfer" zu erbringen (vgl. Prof. Dr. Klaus Offerhaus, a. a. O.).
Weiteres "Sonderopfer" durch nachteilige Kostenentscheidung
Ein Kläger, dessen Revision zurückgewiesen wird, hat die Kosten des Revisionsverfahrens auch zu tragen, wenn der angefochtene Verwaltungsakt auf Vorschriften beruht, die zwar verfassungswidrig sind, deren Anwendung aber aufgrund einer entsprechenden Anordnung des BVerfG zulässig ist. Die volle oder teilweise Erstattung der Auslagen im Verfahren vor dem BVerfG kann nach § 34a Abs. 3 BVerfGG nur von diesem Gericht und nicht vom BFH im Rahmen des Revisionsverfahrens angeordnet werden. Mit anderen Worten: Obwohl ein Kläger im Ergebnis vor dem BVerfG "gewonnen" hat, muss er die Kosten des Klage- und Revisionsverfahren tragen. Dies hat der BFH (Urteil v. 16.5.2018, II R 16/13, BStBl 2018 II, S. 690) zum wiederholten Mal entschieden.
Einzelheiten der Rezensionsentscheidung
Im entschiedenen Fall hatte der Kläger im finanzgerichtlichen Verfahren die ...