Rz. 33
Die Unfähigkeit des Versicherten zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit muss auf Krankheit oder Behinderung beruhen (wegen Krankheit und Behinderung). Krankheit im rentenversicherungsrechtlichen Sinn meint einen regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand, der eine Einschränkung der Erwerbsfähigkeit zur Folge hat (BSG, Beschluss v. 31.10.2012, B 13 R 107/12 B). Abweichend von der gesetzlichen Krankenversicherung setzt der Begriff der Krankheit nach § 43 nicht voraus, dass Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit besteht. Es reicht aus, dass die Erwerbsfähigkeit eingeschränkt ist (BSGE 14 S. 207). Eine Behinderung stellt einen solchen Zustand der Erkrankung dar, wenn er bereits zu einer (dauernden) funktionellen Einschränkung geführt hat (z. B. Taubheit, Verlust eines Armes oder Beines). Eine klare Abgrenzung zwischen beiden Begriffen ist häufig nicht möglich und hat keine praktische Bedeutung. Andere Ursachen für die Einschränkung der Erwerbsfähigkeit wie etwa fehlende Kenntnisse der deutschen Sprache (vgl. BSG, Urteil v. 23.4.1980, 4 RJ 29/79, SozR 2200 § 1246 Nr. 61; BSG, Urteil v. 18.12.1990, 8/5a RKn 5/87, SozR 3-2200 § 1246 Nr. 9; BSG, Urteil v. 8.9.1993, 5 RJ 70/92, SozR 3-2200 § 1246 Nr. 35), der Verlust der beruflichen Kenntnisse durch Entwöhnung vom Beruf, Arbeitsentwöhnung durch langjährige Arbeitslosigkeit, mangelnde Sprachfertigkeit oder Analphabetismus sind nicht geeignet, den Versicherungsfall der Erwerbsminderung als Ursache im Rechtssinn auszulösen (BSG, Urteil v. 19.10.2011, B 13 R 78/09 R; vgl. zur Bedeutung derartiger Einschränkungen für den Rentenanspruch Rz. 31b).
Rz. 34
Auch psychische Erkrankungen können Erwerbsminderung begründen (vgl. BSGE 21 S. 189). Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die Erkrankungen – aus eigener (Willens-)Kraft oder unter ärztlicher Mithilfe – von den Versicherten nicht (mehr) überwunden werden können (BSGE, a. a. O.). Bei der Prüfung und Feststellung der anspruchsbegründenen Tatsachen fordert die Rechtsprechung wegen der "Simulationsnähe von Erkrankungen mit neurotischem Einschlag" einen strengen Maßstab. Für das tatsächliche Vorliegen von seelisch bedingten Störungen, ihre Unüberwindbarkeit aus eigener Kraft und ihre Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit des Versicherten trifft den Rentenbewerber die objektive Beweislast (BSG, Urteil v. 21.10.1969, 11 RA 219/66, und v. 20.10.2004, B 5 RJ 48/03 R). Bei psychiatrischen Erkrankungen ist nach der Rechtsprechung auch stets zu prüfen, ob im Einzelfall aufgrund zuverlässiger ärztlicher Prognose davon auszugehen ist, dass die psychischen Gesundheitsstörungen mit der Ablehnung der begehrten Erwerbsminderungsrente wegfallen. Ist dies der Fall, ist die Rente zu versagen (BSG, Urteil v. 12.9.1990, 5 RJ 88/89).
Im Übrigen sind psychische Erkrankungen nach der ständigen Rechtsprechung des BSG nur dann von rentenrechtlicher Relevanz, wenn trotz Ausschöpfung aller Behandlungsmöglichkeiten davon auszugehen ist, dass die Erkrankung dauerhaft nicht überwunden werden kann, weder aus eigener Kraft noch mit ärztlicher Hilfe (BSG, Urteile v. 12.09.1990, 5 R 88/89, und v. 20.10.2004, B 5 RJ 48/03 R). Danach ist trotz einer durch eine psychische Erkrankung des Versicherten verursachte Reduzierung seines Leistungsvermögens auf einen täglichen Arbeitseinsatz von unter 6 Stunden oder unter 3 Stunden ein Anspruch auf Rente nicht gegeben, solange nicht alle Möglichkeiten der medizinischen Behandlung erfolglos ausgeschöpft sind. Dieser Rechtsprechung kann nicht mehr gefolgt werden. Ebenso wie bei somatischen Erkrankungen ist auch bei psychischen Erkrankungen für die Frage, ob eine quantitative Leistungsreduzierung vorliegt und ob ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung dem Grunde nach besteht, nicht von Bedeutung, ob die Erkrankung behandelbar ist, solange die Leistungseinschränkung besteht. Diese Frage ist nur für die Befristung und Dauer des Rentenanspruchs bedeutsam. § 43 lässt sich keine dahingehende Einschränkung entnehmen, dass die Nichtausschöpfung zumutbarer Behandlungsmaßnahmen zu einem materiell-rechtlichen Ausschluss des Rentenanspruchs führt oder dass hieraus zu schließen ist, dass keine Erkrankung i. S. d. § 43 vorliegt (LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 1.7.2020, L 5 R 1265/18; ebenso SG Oldenburg, Urteil v. 13.9.2017, S 81 R 54/16; vgl. auch BSG, Beschluss v. 7.8.2014, B 13 R 420/13 B).
Eine psychische Erkrankung liegt auch dann vor, wenn der Versicherte zwar objektiv noch in der Lage ist, täglich einer Erwerbstätigkeit in einem Umfang von 6 Stunden nachzugehen, jedoch die durch eine psychische Störung begründete Vorstellung hat, keiner Erwerbstätigkeit nachgehen zu können und sich aus dieser Vorstellung weder aus eigener Willenskraft noch mit ärztlicher Hilfe befreien kann (vgl. BSGE 21 S. 189). Dies begründet jedoch noch nicht (automatisch) den Versicherungsfall der vollen Erwerbsminderung, sondern führt lediglich dazu, dass die psychische Störung Krankheitswert hat, soda...