0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
Die Vorschrift knüpft inhaltlich an § 638 RVO an und ist am 1.1.1997 in Kraft getreten. Für Versicherungsfälle, die sich vor diesem Zeitpunkt ereignet haben, gilt gemäß §§ 212, 214 weiterhin § 638 RVO.
1 Allgemeines
Rz. 2
Die Vorschrift gewährleistet die Einheitlichkeit der Rechtsordnung in den Entscheidungen der Träger der Unfallversicherung und der Sozialgerichte einerseits und den Zivilgerichten (einschließlich der Arbeitsgerichte) andererseits. Die Frage, ob ein Versicherungsfall vorliegt, in welchem Umfang Leistungen erbracht werden und welcher Versicherungsträger zuständig ist, soll hinsichtlich desselben Lebenssachverhalts nicht unterschiedlich beantwortet werden können. Der Ausschluss divergierender Entscheidungen ist auch notwendig, da anderenfalls die Möglichkeit besteht, dass ein Geschädigter trotz schuldhaft verursachtem Schaden leer ausgeht. Der Unfallversicherungsträger lehnt Leistungen ab, weil er meint, dass kein Versicherungsfall vorliegt. Das Zivilgericht lehnt die Schadensersatzpflicht des Schädigers gemäß §§ 104, 105 ab, weil es meint, dass ein Versicherungsfall vorliegt und vorsätzliches Handeln nicht bewiesen ist (Ricke, in: KassKomm. SGB VII, § 108 Rz. 2).
Rz. 3
Abs. 2 unterstreicht den grundsätzlichen Vorrang der sozialrechtlichen Entscheidung. Solange ein von den Beteiligten gewolltes Verwaltungs- und/oder sozialgerichtliches Verfahren nicht zu einer unanfechtbaren Entscheidung geführt hat, ist das zivilrechtliche Verfahren auszusetzen. Das ist auch richtig so; denn in der Sozialverwaltung und der sie kontrollierenden Sozialgerichtsbarkeit ist in aller Regel für diese spezifischen Fragen die weiterreichende Erfahrung und die größere Sach- und Fachkompetenz anzutreffen.
2 Rechtspraxis
Rz. 4
Arbeitsgerichte und Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit, die über Schadensersatzansprüche der in §§ 104 bis 107 genannten Art zu entscheiden haben, sind an die unanfechtbar gewordene Beurteilung des Unfallversicherungsträgers und ggf. des angerufenen Sozialgerichts gebunden, ob ein Versicherungsfall vorliegt, welche Leistungen zu erbringen sind und welcher Unfallversicherungsträger zuständig ist. Liegt noch keine die Parteien des Zivilgerichts bindende bzw. noch keine unanfechtbar gewordene Entscheidung des Unfallversicherungsträgers vor, hat das Zivilgericht (ohne Ermessen) sein Verfahren auszusetzen.
2.1 Bindung der Gerichte
Rz. 5
Die Norm richtet sich an Arbeitsgerichte und je nach Streitwert an die Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit, soweit sie über den Ersatz von Personenschäden zu entscheiden haben, die im Schutzbereich der gesetzlichen Unfallversicherung entstanden sind. Bei Streitigkeiten über den Ersatz von Sachschäden gilt die Vorschrift nicht (Lauterbach/Dahm, SGB VII, § 108 Rz. 2). Arbeitsgerichte sind typischerweise zuständig bei Streitigkeiten um Schadensersatz zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und zwischen Arbeitnehmern untereinander (Hauck/Kranig, SGB VII, § 108 Rz. 4 mit Hinweis auf § 2 Abs. 1 ArbGG). Die Zuständigkeit der Zivilgerichte kommt in allen übrigen Fällen in Betracht, z. B. bei den Ersatzansprüchen nach §§ 110 und 111, für die die Vorschrift gemäß § 112 ebenfalls gilt.
Rz. 6
Bindung bedeutet, dass ein Gericht außerhalb der Sozialgerichtsbarkeit von den Feststellungen des Unfallversicherungsträgers ausgehen muss. Eine Bindung tritt auch ein, wenn die unanfechtbare Entscheidung erst während des Revisionsverfahrens vor dem Zivilgericht vorliegt. Die eintretenden Grenzen der Sachprüfung gelten auch im Revisionsverfahren (Lauterbach/Dahm, SGB VII, § 108 Rz. 6 mit Hinweis auf BGH, Urteil v. 19.10.1993, VI ZR 158/93; ebenso Bereiter-Hahn/Mehrtens, SGB VII, § 108 Rz. 4). Bindung tritt auch ein für zivilrechtliche Verfahren aus übergeleitetem Recht (BGH, Urteil v. 12.6.2007, VI ZR 70/06; BGH, Urteil v. 30.5.2017, VI ZR 501/16). Die Zivil- und Arbeitsgerichte haben die Bindungswirkung von Amts wegen zu beachten (BGH, Urteil v. 22.4.2008, VI ZR 202/07). Über alles, worauf sich die Bindungswirkung nicht erstreckt, entscheiden die Zivilgerichte frei.
2.1.1 Unanfechtbare Entscheidung
Rz. 7
Bei der die Zivilgerichte bindenden Entscheidung kann es sich um eine Verwaltungsentscheidung oder ein Anerkenntnis des zuständigen Unfallversicherungsträgers, um einen Vergleichsvertrag oder eine Entscheidung des Sozialgerichts handeln (Bereiter-Hahn/Mehrtens, SGB VII, § 108 Rz. 4). Die Entscheidung muss im Verhältnis Unfallversicherungsträger – Verletzter (oder Hinterbliebene) ergangen sein. Entscheidungen in anderen Verfahren reichen nicht aus, wie sich aus der Formulierung "nach diesem Buch" ergibt. Ob es sich bei der unanfechtbaren Entscheidung in einem Erstattungsstreit zwischen dem Unfallversicherungsträger und einer Krankenkasse um eine Entscheidung "nach diesem Buch oder nach dem Sozialgerichtsgesetz" handelt, ist in der Literatur umstritten (dagegen: Bereiter-Hahn/Mehrtens, SGB VII, § 108 Rz. 4; Krasney, in: Becker/Burchardt/Krasney/Kruschinsky, SGB VII, § 108 Rz. 8). Nach Sinn und Zweck des § 108 wird es nach anderer Auffassung dann für geboten erachtet, au...