Ingo Heuel, Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 645
Früher traf § 395 RAO für das Steuerstrafrecht eine eigenständige Irrtumsregelung, die aber schon vor ihrer Abschaffung durch das 2. AOStraf-ÄndG vom 12.8.1968 als irreführend angesehen wurde. Der Irrtum über das Bestehen oder die Anwendbarkeit steuerrechtlicher Vorschriften wurde vom RG als Tatbestandsirrtum betrachtet (s. Rz. 658 ff.). Heute gelten die allgemeinen Gesetze über das Strafrecht (§ 369 Abs. 2 AO), so dass §§ 16, 17 StGB Anwendung finden.
Rz. 646
Aus § 17 Satz 1 StGB folgt, dass die Bestrafung wegen vorsätzlicher Tat nicht voraussetzt, dass der Täter bei ihrer Begehung aktuell die Einsicht hat, Unrecht zu begehen. Denn der Täter handelt nur dann ohne Schuld, wenn er die irrtümliche Annahme, kein Unrecht zu begehen, nicht vermeiden konnte. Konnte er den Irrtum hingegen vermeiden, so kann die Strafe zwar nach § 17 Satz 2 i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB gemildert werden; der Täter wird aber trotz der Annahme, rechtmäßig zu handeln, wegen vorsätzlicher Tat bestraft. Aus der Formulierung des § 17 StGB ("Unrecht") folgt ebenfalls, dass dem Täter nicht bekannt sein muss, dass er gerade gegen strafrechtliche Pflichten verstößt. Der Irrtum über die Strafbarkeit ist demnach unbeachtlich. Der Irrtum in der Terminologie des Gesetzes schließt die bloße Unkenntnis, Unrecht zu tun, ein. Der Täter muss also nicht ausdrücklich der Meinung sein, rechtmäßig zu handeln.
Rz. 647
Nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB handelt derjenige nicht vorsätzlich, der bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört. Bei einem solchen Tatumstandsirrtum entfällt die Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Tatbegehung selbst dann, wenn der Täter den Irrtum über den verkannten Tatumstand vermeiden konnte. Nach § 16 Abs. 1 Satz 2 StGB ist er ggf. (nur) wegen fahrlässiger Tatbegehung strafbar. Liegt ein Tatumstandsirrtum in diesem Sinn – ggf. nach dem Grundsatz in dubio pro reo – vor, entfällt also eine Strafbarkeit nach § 370 AO. Geahndet werden kann die Tat bei Leichtfertigkeit als Ordnungswidrigkeit nach § 378 AO. Die unterschiedlichen Rechtsfolgen von § 17 StGB im Vergleich zu § 16 StGB zeigen die praktische Bedeutung der Abgrenzung der beiden Irrtümer voneinander. § 17 StGB führt nur unter viel engeren Voraussetzungen zur Straffreiheit.
Rz. 648
Irrtümer können sich auch auf die Rechtfertigungsgründe oder Entschuldigungsgründe (§ 35 Abs. 2 StGB) beziehen. Der Täter nimmt beim Irrtum über Rechtfertigungsgründe entweder fälschlich an, sein als grds. verboten erkanntes Tun oder Unterlassen sei ihm ausnahmsweise erlaubt (umgekehrter Verbots- bzw. Erlaubnisirrtum), oder er nimmt fälschlich Umstände an, bei deren wirklichem Vorliegen ein Rechtfertigungsgrund zu seinen Gunsten greifen würde (Erlaubnistatbestandsirrtum). Der Erlaubnisirrtum unterfällt den Regeln des § 17 StGB; entscheidend ist also seine Vermeidbarkeit. Hingegen wird der Erlaubnistatbestandsirrtum nach ganz h.M. entsprechend der Regelung des § 16 StGB behandelt, so dass eine Bestrafung wegen vorsätzlicher Tat ausscheidet. Bei Vermeidbarkeit des Irrtums ist der Täter wegen fahrlässiger Tatbegehung strafbar, wenn diese mit Strafe bedroht ist. Da im Steuerstrafrecht Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe praktisch keine Rolle spielen (s. Rz. 630 ff.), sind auch die Irrtumsfragen insoweit nicht relevant.
Rz. 649
Während der Tatumstandsirrtum nach § 16 Abs. 1 StGB zugunsten des Beschuldigten wirkt, geht der umgekehrte Tatumstandsirrtum zu seinen Lasten. Derjenige, der irrtümlich davon ausgeht, einen Tatumstand zu verwirklichen, den er tatsächlich aber nicht verwirklicht, wird bei Strafbarkeit des Versuchs wegen untauglichen Versuchs bestraft. Derjenige hingegen, der fälschlich meint, sein Verhalten sei strafbar, ist straffrei (s. zur Abgrenzung von untauglichem Versuch und Wahndelikt Rz. 682 ff.).
Rz. 650– 651
Einstweilen frei.