Ingo Heuel, Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
a) Notwendigkeit eines Zurechnungszusammenhangs
Rz. 575
Nach ganz h.L. setzt tatbestandsmäßiges Verhalten nicht nur einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Tathandlung und Taterfolg voraus, sondern einen weitergehenden Zurechnungszusammenhang. Dass die Feststellung bloßer Kausalität zwischen Handlung und Erfolg nicht zur Bejahung tatbestandlichen Unrechts ausreichen kann, ergibt sich schon daraus, dass man ansonsten annehmen müsste, dass auch der Vater des Mörders seinerseits das Opfer seines Sohnes tötet, was offenkundig abwegig ist. Hätte er seinen Sohn (den späteren Mörder) aber nicht gezeugt, würde auch der spätere Mord entfallen. Die bloße Feststellung von Kausalität umschreibt das tatbestandliche Verhalten also nicht hinreichend, sondern bezieht viel zu weitgehend rechtlich irrelevante Handlungen ein. Weitere Voraussetzung zur Bejahung des äußeren Tatbestands eines Erfolgsdelikts ist es damit, dass der Täter über die bloße Verursachung hinaus durch seinen Beitrag ein rechtlich missbilligtes Risiko für den Erfolg gesetzt hat, das sich vorhersehbar im Erfolgseintritt verwirklicht.
Rz. 576
Das Erfordernis eines solchen über die Kausalität hinausgehenden Zurechnungszusammenhangs macht für das Steuerstrafrecht der Wortlaut des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO selbst deutlich. Denn danach ist vorausgesetzt, dass die Behörde in Unkenntnis über die steuerlich erheblichen Tatsachen gelassen wird. Daraus ist zu folgern, dass sich nur dann, wenn eine solche Unkenntnis vorliegt, das rechtlich missbilligte Risiko verwirklicht, dass der Täter die zur Steuerfestsetzung erforderlichen Angaben unterlässt. Dabei wird freilich schon deutlich, dass es nicht bloß auf die Kenntnis der steuerlich erheblichen Tatsachen (als subjektives Wissen des zuständigen Beamten) bei der FinB ankommen kann, sondern dass die Kenntnis so beschaffen sein muss, dass der jeweilige Verkürzungserfolg durch eigenes Tätigwerden der Behörde auch tatsächlich vermieden werden kann. Die FinB muss also nicht nur Wissen um die steuerlich erheblichen Tatsachen haben, sondern muss dieses Wissen auch in eine Steuerfestsetzung umsetzen können. Es geht damit um gesicherte Informationen. Ist eine solche Umsetzung nicht möglich, verwirklicht sich die Gefahr des pflichtwidrigen Unterlassens des Täters.
Rz. 576.1
Kennt die FinB bei § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO also den wahren Sachverhalt im gerade genannten Sinn trotz des pflichtwidrigen Unterlassens des Täters, so dass eine zutreffende und rechtzeitige Steuererhebung möglich ist, und wird gleichwohl die Steuer nicht festgesetzt, fehlt es am notwendigen Zusammenhang zwischen Tathandlung und Erfolg. Denn man kann niemanden über steuerrechtlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lassen, der diese Kenntnis bereits besitzt. Der Wortlaut der Nr. 2 beschreibt nicht nur das Verhalten des Täters (Unterlassen der gebotenen Erklärung), sondern auch eine Eigenschaft des vorgesehenen Erklärungsempfängers (Unkenntnis). Deshalb formuliert auch der BGH, dass § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO "im Gegensatz" zu Nr. 2 nicht auf eine Kenntnis oder Unkenntnis abstellt. Die entgegenstehende Auffassung dürfte zumindest als eher fernliegende Interpretation nach der Rspr. des BVerfG unzulässig sein (s. Rz. 25.3).
Rz. 576.2
Einzuräumen ist dabei allerdings, dass eine solche durch den Wortlaut gebotene Auslegung bei Nr. 2 von der des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO abweicht (s. Rz. 585 ff.). Inhaltlich ist das – auch im Hinblick auf § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 AO (s. Rz. 586) – wenig überzeugend. Eine Lösung kann de lege lata darin liegen, an die erforderliche Kenntnis des Amtsträgers strenge Anforderungen zu stellen und sie nur dann zu bejahen, "wenn der zuständige Veranlagungsbeamte von allen für die Veranlagung bedeutsamen Tatsachen Kenntnis hat und zudem sämtliche Beweismittel (§ 90 AO) bekannt und verfügbar sind" (s. aber Rz. 589). In diesen Fällen ist dann auch der Zurechnungszusammenhang bei Nr. 1 zu verneinen. Hinzu nehmen kann man, dass sichergestellt sein muss, dass überhaupt eine steuerliche Prüfung durchgeführt wird.
Rz. 576.3
Eine den Tatbestand ausschließende Kenntnis liegt bspw. dann vor, wenn bekannt ist, dass der Stpfl. entgegen seinen Angaben von seiner Ehefrau getrennt lebt. Die irrtümliche Annahme, der FinB sei diese bekannt, begründet einen Tatumstandsirrtum nach § 16 StGB (s. Rz. 656 ff.). Nicht ausreichend ist es, wenn die FinB aufgrund vorhandener Informationen nur eine Schätzung nach § 162 AO – etwa aufgrund der Angaben des Stpfl. in den Vorjahren – vornehmen kann; die tatbestandlich vorausgesetzte Kenntnis der steuererheblichen Tatsachen für den relevanten Besteuerungszeitraum hat sie dann nicht. Auch der nicht näher konkretisierte (Anfangs-)Verdacht einer Steuerverkürzung durch den zuständigen Beamten reicht nicht aus, so dass ein ermittlungstaktisches Zuwarten der Ermittlungsbehörden mögli...