Rz. 49
Zur Rechtswidrigkeit im Allgemeinen s. § 370 Rz. 630 ff. und § 377 Rz. 78 f.
Rechtfertigungsgründe werden im Rahmen des § 380 AO in aller Regel nicht eingreifen. Eine rechtfertigende Einwilligung des Steuerschuldners (z.B. des Arbeitnehmers, der mit dem Arbeitgeber die Auszahlung des vollen Bruttolohns vereinbart hat) kommt im Hinblick darauf, dass § 380 AO auch den Schutz des vollständigen und rechtzeitigen Aufkommens der einzelnen Abzugsteuern im Auge hat, nicht in Betracht. Hierfür bedürfte es einer Stundung der Steuerschuld (als Form der Einwilligung in die spätere Zahlung) seitens der FinB, die regelmäßig nicht gewährt wird (vgl. § 222 Satz 3 AO; s. Rz. 40). Eine ständige Verwaltungspraxis (z.B. die Nichterhebung von Säumniszuschlägen innerhalb einer Schonfrist, vgl. § 240 Abs. 3 AO; s. Rz. 39) genügt nicht, um die Tat zu rechtfertigen.
Rz. 50
Ebenso wenig sind wirtschaftliche Schwierigkeiten und die Sorge um den Bestand des Unternehmens oder den Erhalt gefährdeter Arbeitsplätze geeignet, einen rechtfertigenden Notstand (§ 377 Abs. 2 AO, § 16 OWiG) anzunehmen. Bei Zahlungsschwierigkeiten hat der Arbeitgeber aufgrund des Vorrangs der öffentlich-rechtlichen Abgabenpflichten (s. Rz. 36) die Löhne entsprechend zu kürzen, selbst auf die Gefahr hin, dass die Arbeitnehmer kündigen (s. Rz. 33.1). Auch der Einwand, die einbehaltenen Steuerabzugsbeträge seien zur Zahlung anderer Steuerschulden verwendet worden, kann nicht als rechtfertigende Pflichtenkollision anerkannt werden.
Rz. 50.1
Beachtlich kann hingegen eine rechtfertigende Pflichtkollision sein, wenn in der Unternehmenskrise die Massesicherungspflicht und die drohende Schadensersatzpflicht gegenüber der Gesamtheit der Gläubiger einerseits (vgl. § 15b InsO) mit den steuerrechtlichen Abgabepflichten andererseits kollidieren.
Beispiel
Gesellschafter-Geschäftsführer G meldete die Lohnsteuerbeträge ordnungsgemäß an. Aufgrund von Lieferantenlastschriften sowie bereits ausgeschöpfter Kontokorrentkreditlinie konnte nur ein Teil der Lohnsteuer, im Vergleich zu den Lieferanten aber überquotal, an die FinB überwiesen werden. Nach weiteren geplatzten Wechseln wurde die Gesellschaft zahlungsunfähig.
Nach früherer Rspr. der BGH in Zivilsachen hat sich ein Geschäftsführer, der in insolvenzreifer Zeit Steuern an den Fiskus abführt, der Gesellschaft gegenüber in voller Höhe nach § 64 GmbHG a.F. schadenersatzpflichtig gemacht. Kam er dagegen seiner Massesicherungspflicht nach und zahlte keine Lohnsteuern und Sozialabgaben, verstieß er damit gegen straf- und bußgeldbewehrte Pflichten etwa nach § 41a EStG bzw. §§ 28d, 28e SGB IV.
Rz. 50.2
Mittlerweile ist höchstrichterlich geklärt, dass es außerhalb eines Insolvenzverfahrens beim Vorrang der besonderen steuer- bzw. sozialversicherungsrechtlichen Einbehaltungs- und Abführungspflichten bleibt, da die Privilegierung des Fiskus erst im Insolvenzverfahren entfällt. Bezüglich der vom Unternehmen selbst geschuldeten Steuern (vor allem Umsatzsteuer, Körperschaftsteuer) bleibt es dagegen beim Grundsatz der anteiligen, quotalen Tilgung zugunsten aller Gläubiger. Dennoch kann die Pflicht zur Abführung von Abzugsteuern (vor allem der Lohnsteuer) innerhalb der Zeitspanne nach Kenntnis der Überschuldung bzw. Zahlungsunfähigkeit, in welcher der Geschäftsführer einer Gesellschaft die Sanierungsfähigkeit prüfen bzw. Sanierungsversuche unternehmen kann (vgl. Höchstfrist von drei Wochen nach § 15a Abs. 1 InsO), kurzfristig suspendiert sein. Insoweit wäre die zeitweise Nichterfüllung der Abzugs- bzw. Einbehaltungspflichten gerechtfertigt; nach Ablauf der aus Gründen des Gläubigerschutzes eng begrenzten Frist entfällt die Rechtfertigung.
Diese Überlegung greifen jedoch nur, wenn es sich tatsächlich um eine unabwendbare Pflichtenkollision handelt. Hieran fehlt es, wenn sich der Täter den widerstreitenden Pflichten und der (nur scheinbaren) Konfliktlage jederzeit, spätestens aber nach Ablauf der Überlegungsfrist, ob Sanierungsversuche Erfolg versprechen, entledigen kann, indem er – in Ausübung der Massesicherungspflicht – den gebotenen Insolvenzantrag stellt.