Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 661
Der wichtigste Abschnitt des Strafprozesses ist die Hauptverhandlung. Unabhängig von den vorher getroffenen Ermittlungen hat das Gericht in der Hauptverhandlung noch einmal alle Beweise zu erheben. Für das Urteil sind allein die hier getroffenen Ergebnisse maßgeblich (§ 261 StPO).
a) Ablauf der Hauptverhandlung
Rz. 662
Der Ablauf der Hauptverhandlung vollzieht sich in folgender zeitlicher Reihenfolge:
- Aufruf der Sache (§ 243 Abs. 1 Satz 1 StPO);
- Feststellung der Anwesenheit des Angeklagten und des Verteidigers, der Herbeischaffung der Beweismittel sowie des Erscheinens der Zeugen und Sachverständigen (§ 243 Abs. 1 Satz 2 StPO);
- Aufforderung der Zeugen zum Verlassen des Sitzungssaals (§ 243 Abs. 2 Satz 1 StPO);
- Vernehmung des Angeklagten zur Person (§ 243 Abs. 2 Satz 3 StPO);
- Verlesung des im Eröffnungsbeschluss zugelassenen Anklagesatzes durch den Staatsanwalt (§ 243 Abs. 3 Satz 1 StPO);
- Mitteilung über Erörterungen nach §§ 202a, 212 StPO, wenn deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c StPO) gewesen ist und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt (§ 243 Abs. 4 Satz 1 StPO);
- Vernehmung des Angeklagten zur Sache (§ 243 Abs. 5 StPO); dabei ist er darauf hinzuweisen, dass es ihm freistehe, sich zu der Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen; in erstinstanzlichen Umfangssachen vor dem Landgericht und Oberlandesgericht kann der Verteidiger auf Antrag für den Angekl. eine Erklärung zur Anklage abgeben, die den Schlussvortrag nicht vorwegnehmen darf (§ 243 Abs. 5 Satz 3 und 4 StPO n.F.; s. Rz. 670);
- Beweisaufnahme (§§ 244–257b StPO), insb. durch die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen (s. Rz. 692 ff.). Der Vorsitzende hat dem Staatsanwalt, der FinB (s. Rz. 640 f.), dem Angeklagten und dem Verteidiger sowie den beisitzenden Richtern zu gestatten, Fragen an die Beweispersonen zu richten (§ 240 StPO, § 407 Abs. 1 Satz 5 AO). Auf Verlangen ist dem Staatsanwalt, dem Verteidiger und dem Vertreter der FinB Gelegenheit zur Abgabe von Erklärungen zu geben (§ 257 StPO, § 407 Abs. 1 Satz 4 AO);
- Schlussvorträge (sog. Plädoyers) des Staatsanwalts und des Verteidigers (§ 258 Abs. 1 StPO);
- Schlusswort des Angeklagten (§ 258 Abs. 2 StPO);
- Urteilsfindung (§§ 192 ff. GVG, § 263 StPO);
- Urteilsverkündung (§ 260 Abs. 1 Satz 1, § 268 StPO) mit Rechtsmittelbelehrung (§ 35a StPO).
Rz. 663
Von diesem gesetzlich vorbestimmten Ablauf des § 243 StPO kann mit Zustimmung der Prozessbeteiligten abgewichen werden. So können z.B. zu einzelnen Punkten der Aussage des Angeklagten Urkunden verlesen werden, die damit in Zusammenhang stehen. Auch bei sog. Punktesachen mit einer Vielzahl von Einzeltaten sind Abweichungen zulässig.
Rz. 664
Schöffen kann gerade in Wirtschaftsstrafsachen im Anschluss an die Verlesung eine Kopie des Anklagesatzes ausgehändigt werden. Von der Verlesung seitenlanger Tabellen kann abgesehen werden.
b) Beteiligung der Finanzbehörde
Ergänzender Hinweis: Nr. 94–96 AStBV (St) 2020 (s. AStBV Rz. 94 ff.).
Rz. 665
Das Gericht gibt der FinB gem. § 407 Abs. 1 Satz 1 AO Gelegenheit, die Gesichtspunkte vorzutragen, die von ihrem Standpunkt aus für die Entscheidung von Bedeutung sind. Der Vorsitzende ist verpflichtet, auf Verlangen dem Vertreter der FinB (als solche treten die Beamten der BuStra auf) in der Hauptverhandlung das Wort zu erteilen (§ 407 Abs. 1 Satz 4 AO). Das Anhörungsrecht und Äußerungsrecht erstreckt sich sowohl auf Zwischenentscheidungen (wie z.B. Beweisbeschlüsse) als auch auf abschließende Entscheidungen (z.B. Einstellung oder Urteil). Näher dazu § 407 Rz. 5 ff., 16 ff.
Rz. 666
Die FinB hat auch ein eigenes Fragerecht (§ 407 Abs. 1 Satz 5 AO; s. § 407 Rz. 20). Danach ist dem Vertreter der FinB die unmittelbare Befragung des Angeklagten, der Zeugen und Sachverständigen gestattet. Andererseits ist es der FinB verwehrt, in der Hauptverhandlung prozessuale Anträge (etwa Beweis- oder Strafanträge) zu stellen. Entsprechendes gilt für die Einlegung von Rechtsmitteln. Sie ist insoweit auf die Zusammenarbeit mit der StA angewiesen.
Rz. 667
Eine Verletzung des Rechts auf Anhörung können der Angeklagte und die StA – nicht die FinB selbst – als Verfahrensverstoß mit der Revision unter dem Gesichtspunkt der Verletzung der Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO rügen. Voraussetzung ist allerdings, dass im Falle der Anhörung des Vertreters der FinB eine weitere Sachaufklärung zu erwarten gewesen wäre (s. § 407 Rz. 23). Zu den Möglichkeiten einer Anhörungsrüge gem. §§ 33a, 356a StPO s. Rz. 862 ff. und § 407 Rz. 25.
c) Vernehmung des Angeklagten
Schrifttum:
Beulke, Äußerungen des Strafverteidigers in der Hauptverhandlung als Einlassung des Angeklagten?, in FS Strauda, 2006, S. 93; Dencker, Die Form der Vernehmung des Angeklagten, in FS Fezer, 2008, S. 115; Detter, Einlassung mit oder durch den Verteidiger – Ein notwendiges Instrument effektiver Strafverteidigung?, in FS Rissing-van Saan, 2011,...