Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 106
Nach dem Nemo-tenetur-Prinzip braucht der Stpfl. keine ihn belastenden Angaben bzgl. bereits "begangener" Steuerstraftaten und -ordnungswidrigkeiten zu machen, die Gegenstand der Steuerprüfung bzw. des eingeleiteten Strafverfahrens sind. Bei wahrheitswidrigen Angaben macht er sich nicht nach § 370 AO strafbar, denn dadurch werden lediglich erlangte Vorteile gesichert (zum Selbstbegünstigungsprivileg vgl. auch § 258 Abs. 5 StGB).
Rz. 107
Eine vergleichbare Konfliktlage besteht, wenn sich der Stpfl. durch Abgabe einer korrekten Steuererklärung zwangsläufig wegen früherer Steuerstraftaten selbst belasten müsste. Entscheidet er sich deswegen zur Beibehaltung der falsch angegebenen Besteuerungsgrundlagen, macht er sich erneut einer Steuerhinterziehung schuldig. Wenn dann auch der Ausweg über eine strafbefreiende Selbstanzeige abgeschnitten ist, so stellt sich die mit den steuerlichen Erklärungspflichten verknüpfte Strafandrohung als Zwang zur Selbstbelastung dar.
Rz. 108
Zur Lösung dieser Zwangslage wird z.T. vertreten, die wegen § 393 Abs. 1 Satz 1 AO grds. fortbestehenden Steuererklärungspflichten entweder ganz oder nur bezogen auf die selbstbelastenden Umstände unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit entfallen zu lassen. Berthold gelangt zum selben Ergebnis, indem er das Merkmal der Pflichtwidrigkeit in § 370 Abs. 1 Satz 2 AO bei drohender Selbstbelastung reduzieren will. Teils wird die Straflosigkeit einer Nicht- oder Falscherklärung mit dem Entschuldigungsgrund des § 35 StGB bzw. der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens begründet (s. auch § 370 Rz. 304 ff. m.w.N.). Danach blieben Teilnehmer und Mittäter grds. strafbar. Deshalb schlägt Berthold de lege ferenda einen eigenständigen persönlichen Strafausschließungsgrund in § 370 AO für diese Fälle vor. Böse nimmt hingegen eine unbeschränkte Pflicht zur Abgabe korrekter Steuererklärungen auch für die Zukunft nach den Grundsätzen der omissio libera in causa an. Hierfür dürfte es aber an der erforderlichen subjektiven Vorstellung des Täters bei Abgabe der ersten unrichtigen Steuererklärung im Hinblick auf die Folgejahre fehlen.
Eine Entschärfung des Konflikts wird auch mithilfe des Rechtsinstituts der AdV erwogen. Wenn der Stpfl. im Rechtsbehelfsverfahren die Rechtswidrigkeit in Bezug auf bestimmte Beträge nicht ohne Selbstbelastung entkräften kann, böte es sich an, die Vollziehung des entsprechenden Steuerbescheides wegen unbilliger Härte (§ 361 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AO) auszusetzen. Der BFH hat jedoch eine solche Auslegung dieser Norm abgelehnt.
Rz. 109
Vorzugswürdig ist die Ansicht, die bei Fortbestehen der strafbewehrten Erklärungspflicht die dadurch offenbarten Tatsachen für unverwertbar hält, wobei auf eine gesetzliche Ausprägung eines Verwertungsverbotes entsprechend § 393 Abs. 2 AO bzw. § 97 InsO de lege lata zu hoffen ist. Dabei werden die fiskalischen Interessen gewahrt, die bei einem Abwarten bis zum rechtskräftigen Abschluss des Steuer(straf-)verfahrens gefährdet wären. Zum anderen kann der Stpfl. durch kooperatives Verhalten (s. dazu auch Rz. 154) die zutreffende Steuerfestsetzung und durch Offenbarung der richtigen und vollständigen Angaben das Strafmaß und die Strafzumessung zu seinen Gunsten beeinflussen.
Rz. 110
Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang die Ansicht von List, nach der die fortbestehenden steuerlichen Mitwirkungspflichten aus § 393 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 90 Abs. 1 Satz 2, § 93 Abs. 3 Satz 1 AO trotz bereits eingeleiteten Steuerstrafverfahrens zu einer verfassungswidrigen, mit Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG nicht zu vereinbarenden Selbstbezichtigung führen. Darüber hinaus sei die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen nach § 162 AO als verfassungswidriges Zwangsmittel im Falle der Gefahr der Strafverfolgung zu werten. § 393 Abs. 1 Satz 1 AO sei zudem eine Verletzung des Rechtsstaatsprinzips immanent. Nach dieser Norm bestehe die Option, denselben Sachverhalt im Besteuerungs- und im Strafverfahren jeweils unterschiedlich zu beurteilen. Dies stelle eine Verletzung des rechtsstaatlichen Gebots der Widerspruchsfreiheit dar.
Rz. 111
Der BGH löst in den Fällen eines bereits eingeleiteten Steuerstrafverfahrens den Konflikt durch eine Modifizierung der Erklärungspflichten und vertritt dabei eine sehr restriktive Auffassung (s. auch § 370 Rz. 304, 309 ff. sowie die nachst. Beispiele). Danach ist die strafrechtliche Sanktionierung so lange suspendiert, wie das Strafverfahren andauert. Der Nemo-tenetur-Grundsatz rechtfertige hingegen nicht die Begehung neuen Unrechts, da sonst ein Verstoß gegen den steuerlichen Gleichbehandlungsgrundsatz vorläge. Die Abgabe erneuter unrichtiger Erklärungen oder die Nichtabgabe zutreffender Erklärungen für zukünftige Veranlagungszeiträume sei daher untersagt (dazu sogleich).