Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
a) Gesetzliche Fallgruppen
Rz. 247
Die "namentlich" in § 30 Abs. 4 Nr. 5 Buchst. a-c AO aufgeführten Fallgruppen dienen der Konkretisierung, wobei umstritten ist, ob es sich um Regelbeispiele oder Anwendungsfälle handelt. In § 30 Abs. 4 Nr. 5 Buchst. a und b AO sind Verbrechen und bestimmte vorsätzliche schwere Vergehen und schwerwiegende Wirtschaftsstraftaten genannt.
Rz. 248
Verbrechen sind Taten mit einer Mindeststrafandrohung von einem Jahr Freiheitsstrafe (§ 12 Abs. 1 StGB), wobei Strafschärfungen/-milderungen außer Betracht bleiben (§ 12 Abs. 3 StGB).
Rz. 249
Schwere vorsätzliche Vergehen müssen eine schwerwiegende Rechtsverletzung darstellen und mit Freiheitsstrafe bedroht sein. Unklar ist, welche Taten darunter im Einzelnen zu verstehen sind.
Rz. 249.1
Zu weitgehend befürwortet die Verwaltung z.B. eine Auskunftsbefugnis bei Delikten zum Nachteil eines Amtsträgers bzw. einer Behörde (z.B. §§ 164, 185, 187, §§ 223 ff., §§ 239, 240, 241, 113 Abs. 1, §§ 136, 288, 331 ff. StGB).
Rz. 249.2
Im Hinblick auf das Nemo-tenetur-Prinzip ist diese Vorschrift vielmehr eng auszulegen. Denkbar ist eine Beschränkung auf die in § 138 StGB genannten Taten. Erfasst sind danach nur besonders schwere Delikte gegen Leib und Leben und gegen spezifische staatliche Rechtsgüter (wobei der Streit, ob dazu auch Eigentums- und Vermögensdelikte gegenüber dem Fiskus zählen, durch § 30 Abs. 4 Nr. 5 Buchst. b AO obsolet geworden ist). Jenseits dieser Katalogtaten besteht für die FinB eine Mitteilungspflicht für Korruptionsdelikte (§ 4 Abs. 5 Nr. 10 Satz 3 EStG), illegale Beschäftigung und Subventionsbetrug (§ 31a AO, s. Rz. 252), Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung (§ 31b AO).
Rz. 249.3
Der BGH schlägt zur Lösung dieser Konfliktlage eine Reduzierung des Erklärungsumfangs vor, indem die illegalen Einkünfte nur betragsmäßig ohne genaue Bezeichnung der Einkunftsquelle bezeichnet werden (s. Rz. 127, 205 ff.). Dieser Ansatz ist aber wenig praxistauglich. Er lässt sich insbesondere bei laufenden Einkünften oder bei Geltendmachung von Werbungskosten/Betriebsausgaben nicht durchhalten. Die FinB kann im Einzelfall zutreffende Rückschlüsse anstellen und Verdachtsanzeige an die StA erstatten. Wulf fordert daher zu Recht, dass dem Stpfl. darüber hinaus das Recht eingeräumt werden müsse, eine weitere Mitwirkung wegen drohender Selbstbelastung zu verweigern, ohne dass der daraus resultierende Verdacht zu einer Durchbrechung des Verwendungsverbots des § 393 Abs. 2 AO führt.
Rz. 250
Das Gesetz selbst enthält dazu keine Begriffsbestimmung. Eine Anknüpfung an den festkonturierten Tatenkatalog des § 74c GVG war bereits im Gesetzgebungsverfahren abgelehnt worden, weil dadurch die Fälle der erlaubten Offenbarung erheblich erweitert worden wären. Gleichwohl ist § 74c GVG für die Auslegung des § 30 Abs. 4 Nr. 5 Buchst. b AO von gewisser Bedeutung und dann aber abschließend. Hinzukommen muss eine Störung der öffentlichen Ordnung und ein "erhebliches" Erschüttern des Vertrauens der Allgemeinheit. Geschützt ist die Redlichkeit des geschäftlichen Verkehrs. Besonders schwer wiegt das öffentliche Interesse, wenn nicht nur eine Einzelperson betroffen ist, sondern das gesamte Wirtschaftssystem (z.B. bei Insolvenz einer Großbank, Serien- und Subventionsbetrügereien). Zu weit geht aber die Ansicht der Finanzverwaltung, die einschränkungslos die Offenbarung von Erkenntnissen zu Straftaten im Zusammenhang mit einer Insolvenz (z.B. §§ 283–283d StGB, § 15a Abs. 4 InsO) gestattet.
Rz. 251
Nach einer Entscheidung des OLG Stuttgart liegt ein die Offenbarung rechtfertigendes öffentliches Interesse nicht generell bei falschen Angaben i.S.d. § 82 Abs. 1 Nr. 1 GmbHG vor, obwohl die Vorschrift in dem Katalog der Wirtschaftsstraftaten (vgl. § 74c Nr. 1 GVG) enthalten ist. Dies spreche allein noch nicht für ein besonderes Gewicht der dort bezeichneten Strafsachen.
Auch bei der illegalen Beschaffung von Prepaid-Telefonkarten durch Diebstahl in Tateinheit mit Untreue weist der Tatbestand der Untreue (vgl. § 74c Abs. 1 Nr. 6 Buchst. a GVG) allein trotz eines Millionenschadens nicht das nötige Gewicht auf.
Rz. 252
Weitere Durchbrechungen des Steuergeheimnisses sind u.a. gem. § 31a AO vorgesehen, der die FinB sogar verpflichtet, strafrechtlich relevante Tatsachen aus den Steuerakten den Strafverfolgungsbehörden mitzuteilen. Zulässig ist dies bei Erkenntnissen von illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit (§ 31a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a, Abs. 2 Satz 1 AO) und seit neuestem auch wegen Subventionsbetrugs, unabhängig von der Höhe des Subventionsbetrages (§ 31a Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 AO, eingefügt durch das JStG 2022 im Zusammenhang mit Corona-Beihilf...