a) Überblick
Rz. 922
Insbesondere im Zusammenhang mit internationalen Umsatzsteuerhinterziehung kommt es überproportional häufig zu einer Anwendung von Art. 54 SDÜ/Art. 50 GRCh, da grundsätzlich jedes betroffene europäische Land zur Strafverfolgung befugt ist. Das Vorliegen der Voraussetzungen ist sowohl vor der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, insb. aber vor der Stellung eines Rechtshilfeersuchens zu prüfen, wenn das Rechtshilfeersuchen nicht der Gewinnnung entsprechender Informationen zur Beurteilung dieser Frage dient.
Rz. 923
Beispiel
Der spanische Geschäftsmann A betreibt von Italien aus ein Umsatzsteuerkarussell oder Streckengeschäfte, indem er aus Deutschland (vermeintlich) Autos importiert. Sämtliche Buch- und Belegnachweise genügen nicht den gesetzlichen Mindestanforderungen und sind mitunter gefälscht.
Im konkreten Fall sind Italien und Deutschland bereits über das Territorialitätsprinzip wegen des im jeweiligen Land belegenen Tatorts zur Strafverfolgung berufen. Spanien gelangt über das aktive Personalitätsprinzip zu einer Strafverfolgung. Art. 103 Abs. 3 GG regelt lediglich den innerstaatlichen Grundsatz des "ne bis in idem" (Verbot der Doppelbestrafung), hindert aber nicht die mehrfache Strafverfolgung. Auch Art. 54 SDÜ regelt auf europäischer Ebene nur ein zwischenstaatliches Doppelbestrafungsverbot, besagt aber nichts über die Berechtigung zur Strafverfolgung. Dass überhaupt ein Ermittlungsverfahren geführt wird, besagt nämlich noch nicht, dass es letztlich auch zu einer Verurteilung kommt.
Rz. 924
Ein Hindernis für die Strafverfolgung tritt ab endgültiger Verfahrenseinstellung nach Art. 54 SDÜ bzw. Art. 50 EU-Grundrechtecharta in den Mitgliedstaaten der EU, Island, Norwegen und der Schweiz ein, wenn das Verfahren durch ein Gericht oder eine "zur Mitwirkung bei der Strafrechtspflege" berufene Behörde eingestellt worden ist und es sich um eine Entscheidung mit Sanktionscharakter handelt, bei der "das dem Beschuldigten vorgeworfene unerlaubte Verhalten" durch zu erfüllende Auflagen geahndet und die Strafklage nach nationalem Recht mit der Folge "endgültig verbraucht" wird, dass erneute Ermittlungen nur vor dem Hintergrund neuer Belastungstatsachen oder bei außerordentlichen Rechtsbehelfen zulässig sind. Im Jahre 1995 wurde das Schengener Durchführungsabkommen verabschiedet und die Regelung des Art. 54 SDÜ trat in Kraft.
Rz. 925
Irland und Großbritanien wenden die Bestimmung gem. Art. 1 der Ratsbeschlüsse vom 29.5.2000 und 28.2.2002 an. Norwegen, Island und die Schweiz wenden das SDÜ als assoziierte Staaten an. Die Anwendbarkeit von Art. 54 SDÜ im Hinblick auf die Schweiz ergibt sich nach Inkrafttreten des im Rahmen der "Bilateralen II" geschlossenen Assoziierungsabkommens zwischen der Schweiz, der EG und der EU vom 26.10.2004, in Kraft getreten am 12.12.2008. Zum 1.5.2004 traten zehn weitere Staaten der EU bei, die den Schengen-Besitzstand vollständig zu übernehmen hatten. Der Geltungsbereich des SDÜ erstreckt sich demnach auf 30 Staaten.
Rz. 926
Art. 50 GRCh: Der Grundsatz des "ne bis in idem" ist auch allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts und in Art. 50 der am 7.12.2000 in Nizza verkündeten Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) niedergelegt. Der dahinterstehende Sinn ist, dem europäischen Freizügigkeitsgrundrecht zu größtmöglicher Wirkung zu verhelfen, da niemand in seiner Freizügigkeit gehindert sein darf, wenn er befürchten müsste, innerhalb der EU wegen einer bereits abgeurteilten Tat erneut verfolgt zu werden.
Rz. 927
Keine größeren Probleme wirft die Frage nach der Aburteilung auf, wenn der Beschuldigte rechtskräftig im Wege der Hauptverhandlung freigesprochen oder zu einer Geld- oder Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Es macht auch keinen Unterschied, ob das Gericht die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung aussetzte oder die Entscheidung im Strafbefehlsweg erging. Gleichsam genügt die Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB) den Anforderungen des Art. 54 SDÜ. Es kommt allein auf die Verfahrensbeendigung an.
Rz. 928
Zwischenzeitlich hat der EuGH eine Relativierung des Grundsatzes der Freiheit vor Doppelbestrafung vorgenommen. Anders als im deutschen Verfassungsrecht handelt es sich nicht um eine unabwendbare Schrankenschranke, sondern ausschließlich um ein unabwendbares Prozessgrundrecht. Art. 50 GRCh ist gleichsam im Lichte von Art. 52 GRCh zu betrachten. Danach kann eine Einschränkung des Grundsatzes und damit eine doppelte Verhängung einer als Strafe anzusehenden Sanktion nach Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRCh gerechtfertigt sein..
Rz. 929
Die Bekämpfung der Hinterziehung der Mehrwertsteuer sieht der EuGH dabei stets als eine solche, dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung an. Der EuGH hält eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und sanktionsstrafrechtliche Art für gerechtfertigt, wenn zur Erreichung eines solchen Ziel...