Entscheidungsstichwort (Thema)

Freistellungsklausel. Angemessenheitskontrolle. Billigkeitskontrolle

 

Leitsatz (amtlich)

1. Freistellungsklauseln in vorformulierten „Vertragsbedingungen Außertariflicher Mitarbeiter” unterliegen gemäß § 310 Abs. 4 Satz 2 BGB der Inhaltskontrolle gemäß § 307 BGB.

2. Bei der Angemessenheitskontrolle von Freistellungsklauseln gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB muss der allgemeine Beschäftigungsanspruch als Leitbild iSv. § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB berücksichtigt und ein genereller Prüfungsmaßstab angelegt werden.

3. Demnach sind generelle, einschränkungslose Freistellungsklauseln gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam.

4. Freistellungsklauseln für den Fall der Kündigung außertariflicher Mitarbeiter sind jedoch dann nicht gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam, wenn die Ausübung des Freistellungsrechts der Billigkeitskontrolle iSv. § 315 BGB unterliegt.

5. Die Ausübung des in einer Freistellungsklausel vereinbarten Freistellungsrechts unterliegt auf Grund einer Auslegung gemäß § 315 Abs. 1 BGB oder, wenn eine solche Auslegung nicht möglich ist, auf Grund einer sog. geltungserhaltenden Reduktion der Billigkeitskontrolle iSv. § 315 BGB, wenn anders die Freistellungsklausel gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam ist.

6. Die gemäß § 315 BGB erforderliche Billigkeit der auf Grund einer Freistellungsklausel erklärten Freistellung setzt zwar eine Interessenabwägung voraus, aber nicht ein das Beschäftigungsinteresse des Arbeitnehmers überwiegendes, schutzwürdiges Interesse des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung des Arbeitnehmers iSd. Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum allgemeinen Beschäftigungsanspruch.

7. Die Freistellung muss gemäß § 315 Abs. 3 Satz 2 BGB ggf. wegen einer unbillig langer Dauer auf das angemessene Maß verkürzt werden.

 

Normenkette

BGB §§ 305, 307, 310, 315

 

Verfahrensgang

ArbG München (Urteil vom 28.02.2003; Aktenzeichen 6 Ga 59/03)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird dasUrteil desArbeitsgerichts München vom28.02.2003 – 6 Ga 59/03 – abgeändert und der Antrag der Klägerin auf Verurteilung der Beklagten zur Beschäftigung der Klägerin zu unveränderten Vertragsbedingungen bis zum 31. Juli 2003 kostenpflichtig abgewiesen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten im einstweiligen Verfügungsverfahren über den Anspruch der Klägerin auf vertragsgemäße Beschäftigung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist, nachdem die Beklagte die Klägerin auf Grund einer arbeitsvertraglichen Freistellungsklausel von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung freigestellt hat.

Die Beklagte ist ein Elektrotechnikunternehmen, das in M. vier Betriebe unterhält. In dem Betrieb M. sind zurzeit (noch) etwa 5.600 Arbeitnehmer in dem Geschäftsbereich Information and Communicaton Networks (ICN) und etwa 1.700 Arbeitnehmer in dem Geschäftsbereich Information and Communication Mobile (ICM) beschäftigt.

Die am 29.03.1955 geborene Klägerin ist Diplom-Ingenieur und seit 15.10.1984 bei der Beklagten als Softwareentwicklerin beschäftigt. Seit 01.09.1989 ist die Klägerin sog. außertarifliche Mitarbeiterin. Gemäß Schreiben der Beklagten vom 01.08.1996 und der Einverständniserklärung der Klägerin auf diesem Schreiben haben die Parteien eine Neuregelung des Arbeitsverhältnisses nach den „Vertragsbedingungen der Außertariflichen Mitarbeiter 1. Oktober 1996” vereinbart. Diese Vertragsbedingungen enthalten in Nr. 12 Abs. 3 eine Freistellungsklausel.

Wegen eines erheblichen Auftrags- und Umsatzrückgangs beschloss der ICN-Bereichsvorstand im Juli bzw. September 2002, die Personalkapazität an den Bedarf anzupassen und das so genannte Carrier-Geschäft (mit Telefonanlagen und -systemen für Telefongesellschaften im Festnetzbereich) neu zu organisieren.

Diesbezüglich vereinbarte die Beklagte mit dem Betriebsrat M. den Interessenausgleich „Kapazitätsanpassung ICN M. 2002 und Neuausrichtung des ICN-Carrier-Geschäfts” vom 23.10.2002. Gemäß Nr. 3.1 dieses Interessenausgleichs wurde „mit Wirkung zum 01.11.2002” die „neue ICN Carrier-Organisation eingeführt” und gemäß Nr. 4.3 sollten 1.100 Arbeitnehmer „– so weit möglich – einvernehmlich … ausscheiden” und dementsprechend „höchstens 1.100 betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen” werden.

Auf der Grundlage dieses Interessenausgleichs kündigte die Beklagte mit Schreiben vom 15.01.2003 im Geschäftsbereich ICN – gegen den Widerspruch des Betriebsrats – insgesamt 154 Arbeitnehmern, die sie alle „ab sofort” unter Fortzahlung der Vergütung von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung bis zum Ablauf der jeweiligen Kündigungsfrist freistellte.

Die mit Schreiben vom 15.01.2003 zum 31.07.2003 gekündigte Klägerin wurde „ab sofort” „unter voller Anrechnung der Urlaubstage und Gleitzeitsalden” von der „Verpflichtung zur Arbeitsleistung freigestellt”, nachdem sie zuletzt in dem schon nach Maßgabe des Interessenausgleichs neu organisierten Geschäftsgebiet ICN CP (Forschung und Entwicklung) im Betrieb M. beschäftigt worden war.

Die Klägerin hat mit ihrer Antragsschrift vom 0...

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