Rn. 16a
Stand: EL 159 – ET: 08/2022
Der Vorgang, der dem StPfl Einkommen verschafft, kann positiv oder negativ auf sein Vermögen wirken. Nur eine Gesamtbetrachtung aller aus demselben Vorgang herrührenden Vor- und Nachteile erklärt aber, ob tatsächlich die Leistungsfähigkeit gesteigert ist. Nur Nettozuflüsse können dies bewirken. Das Einkommen kann daher nur als Ergebnis einer Nettorechnung verstanden werden: die Vor- und Nachteile sind miteinander zu saldieren. Das ESt-Recht basiert auf einem objektiven (= die Vor- und Nachteile desselben wirtschaftlichen Vorgangs saldierenden) Nettoprinzip (st Rspr, BVerfGE 122, 210 Tz 62; BFH BStBl II 1995, 47; BFH X R 10/08, BStBl II 2010, 617; BFH X R 10/10, BFH/NV 2011, 977; BFH GrS 1/06, BStBl II 2010, 672).
Rn. 16b
Stand: EL 159 – ET: 08/2022
Auf Basis dieses objektiven Nettoprinzips definiert § 2 Abs 2 EStG den Gewinn/Überschuss der Einnahmen über die Ausgaben als zu erfassende Einkünfte (BFH X R 10/08, BStBl II 2010, 617).
Rn. 16c
Stand: EL 159 – ET: 08/2022
Es handelt sich dabei um ein grundlegendes Ordnungsprinzip (BFH BStBl II 1987, 212). Das BVerfG hatte dabei stets offengelassen, ob es Verfassungsrang hat (BVerfGE 122, 210 Tz 63; BVerfG BGBl I 2010, 1157 Tz 40, mE zu bejahen, glA Lindberg in Frotscher/Geurts, § 2 EStG Rz 11, Stand 13.03.2019). Jedenfalls aber kann der Gesetzgeber dieses Prinzip bei Vorliegen gewichtiger Gründe durchbrechen und sich dabei generalisierender, typisierender und pauschalierender Regelungen bedienen (st Rspr, zB BVerfGE 122, 210 Tz 63; BVerfG BGBl I 2010, 1157 Tz 40). Schon das einfachgesetzliche objektive Nettoprinzip ist aber bedeutsam wegen der Anforderungen an eine hinreichende Folgerichtigkeit bei näherer Ausgestaltung gesetzgeberischer Grundentscheidungen (BVerfGE 122, 210 Rz 63; BVerfG BGBl I 2010, 1157 Rz 35, 40; BFH I R 9/11, BStBl II 2013, 512). Die Beschränkung des steuerlichen Zugriffs nach Maßgabe des objektiven Nettoprinzips als Ausgangstatbestand der ESt gehört zu diesen Grundentscheidungen, so dass Ausnahmen von der folgerichtigen Umsetzung eines besonderen, sachlich rechtfertigenden Grundes bedürfen (BVerfGE 122, 210 Rz 63; BVerfG BGBl I 2010, 1157 Rz 36, 40). Ein solcher Grund kann insbesondere liegen in (BVerfG BGBl I 2010, 1157 Rz 37):
- außerfiskalischen Förderungs- und Lenkungszwecken,
- Typisierungs- und Vereinfachungserfordernissen,
- nicht aber im rein fiskalischen Zweck staatlicher Einnahmenerhöhung.
Rn. 16d
Stand: EL 159 – ET: 08/2022
Durchbrechungen des objektiven Nettoprinzips finden sich zB in
Rn. 16e
Stand: EL 159 – ET: 08/2022
Insbesondere zwei Entscheidungen des BVerfG zum objektiven Nettoprinzip sind wegweisend:
(1) |
BVerfGE 122,10 zur sog Km-Pauschale nach § 9 Abs 2 EStG aF: Diese Regelung hatte grds den Abzug der Aufwendungen für die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte nicht als WK zugelassen, aber ab dem 21. Entfernungskilometer dennoch eine Pauschale von EUR 0,30/Entfernungskilometer "wie" WK zugelassen, maximal EUR 4 500 pa (bei Benutzung eines eigenen/zur Nutzung überlassenen Kfz jedoch auch darüber hinaus). Diese räumliche Abgrenzung (unter bzw über 21. Entfernungskilometer) sei eine nicht zu rechtfertigende Abweichung vom (objektiven) Nettoprinzip. Haushaltsrechtliche Gründe oder Förderung-/Lenkungszwecke würden dies nicht rechtfertigen. Die Regelung war also nicht "folgerichtig" iSd Art 3 Abs 1 GG. |
(2) |
BVerfG BGBl I 2010, 1157 zum häuslichen Arbeitszimmer nach § 4 Abs 5 S 1 Nr 6b EStG: Das dort geregelte Abzugsverbot für Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer auch für den Fall, dass für die berufliche oder betriebliche Tätigkeit kein anderer Arbeitsplatz zur Verfügung steht, verstieß gegen Art 3 Abs 1 GG. Insbesondere reichen fiskalische Gründe der Einnahmenerhöhung nicht als Rechtfertigung aus (s Rn 16c), und ein erkennbarer Förderungs- oder Lenkungszweck liegt ebenfalls nicht vor; auch genügt die Regelung nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an typisierende Regelungen (s Rn 16c) für den Fall "kein anderes Arbeitszimmer", weil dies eine leicht nachprüfbare Tatsache ist. |
Rn. 16f
Stand: EL 159 – ET: 08/2022
Die beiden Entscheidungen des BVerfG sind zu begrüßen und haben dem Gesetzgeber insbesondere aufgezeigt, dass nicht allein fiskalische Erwägungen das objektiven Nettoprinzip einfach übergehen können. De facto hat dieses Prinzip damit Verfassungsrang, der BFH GrS 1/06, BStBl II 2010, 672 spricht von "verfassungsrechtlicher Bedeutung". Auch BVerfG 2 BvR 2683/11, BStBl II 2016, 310 leitet aus dem Gebot der Folgerichtigkeit ab, dass rein fiskalische Zwecke der Einnahmenerhöhung nicht dessen Durchbrechung rechtfertigen.
Rn. 16g
Stand: EL 159 – ET: 08/2022
vorläufig frei