Jürgen Dräger, Tobias Müller
Rn. 985
Stand: EL 175 – ET: 09/2024
Die Rückstellungen für Verbindlichkeiten stellen mit großem Abstand das umstrittenste – in der praktischen Abwicklung ebenso wie in der Finanz-Rspr – Gebiet der Bilanzierung dar. Der Grund dafür liegt einfach darin, dass hier die "Bilanz" – verstanden als Abbild des Vermögens – am deutlichsten ihren eigentlichen (wirtschaftlichen) Inhalt darstellt, der ausschließlich auf Zukunftserwartungen ausgerichtet ist (s §§ 4,5 Rn 18 (Briesemeister)).
Schon die Terminologie der Definition in § 249 Abs 1 S 1 HGB – "ungewiss" – deutet dies an. Das Steuerrecht ist diesem Phänomen gegenüber bis 1998 ohne eigene gesetzliche Regelung geblieben, es hat in § 5 EStG nur implizit das Vorhandensein von Rückstellungen in der StB bestätigt. Zumindest bis ins Jahr 1998 gilt in diesem Bilanzierungsbereich ausschließlich die handelsrechtliche Vorgabe für Ansatz und Bewertung. Wegen Einzelheiten zum Bilanzansatz und zur Abgrenzung von den anderen Rückstellungsarten s §§ 4,5 Rn 860ff (Hoffmann).
Dem Phänomen der "Ungewissheit" beugen sich – mit unterschiedlicher Terminologie – auch die IFRS in IAS 37.14f. Auch hier geht es um die Tatsache, dass dem Phänomen der Ungewissheit kaum jemals mit einer eindeutigen Regel der bilanziellen Abbildung beizukommen ist. Letztlich handelt es sich bei der Bewertung von Verbindlichkeitsrückstellungen in jedwedem Bilanzierungssystem schlichtweg um Schätzungen (s §§ 4,5 Rn 860 (Hoffmann)). Und diese Schätzungen können sich im Einzelfall innerhalb eines erheblichen, nur bedingt nachprüfbaren Ermessensspielraums bewegen (A/D/S, § 253 HGB Rz 190, 6. Aufl). Die IAS 37.25 bezeichnen in diesem Zusammenhang das Schätzungserfordernis als wesentlichen Teil der Bilanzerstellung. Und diese Schätzung hat innerhalb von Bandbreiten zu erfolgen, die sich v betreffenden Unternehmen bestimmen lassen. Und deshalb sei – sonst ein äußerst bequemer Weg zum Verzicht auf die Lösung schwieriger Bilanzierungsfälle – das Erfordernis der Schätzung nur in äußerst seltenen Fällen ein Grund dafür, den Bilanzposten gar nicht erst anzusetzen.
Rn. 986
Stand: EL 175 – ET: 09/2024
Diese in den Bilanzposten hineingelegte "Unsicherheit" begleitet sowohl den Ansatz als auch die Bewertung. "Unsicher" ist danach
- zunächst einmal, ob eine Verpflichtung (Verbindlichkeit) bilanzieller Art überhaupt besteht,
- und wenn ja, wie sie zu bewerten ist.
Und die Bewertung selbst muss dann in zwei Stufen abgewickelt werden, allerdings "nur" in Form einer Art Ausgangsbewertung (s Rn 145), die ggf den weiteren Erkenntnissen bei Folgebilanzierungen anzupassen ist.
Eine Regelabschreibung wie auf der Aktivseite kennt die Rückstellung wie auch die Verbindlichkeit allg nicht, allenfalls kann man eine "negative" Teilwertabschreibungund -zuschreibung orten (für Verbindlichkeiten s Rn 925), die aber im Ergebnis den eben genannten Anpassungen an bessere Erkenntnisse entsprechen.
Andererseits kann man die von Gesetzes wegen gebotene Abzinsung mit der Folge einer Aufzinsung im Zeitverlauf durchaus als negative Teilwertabschreibung verbunden mit einer Zuschreibung ansehen (s Rn 925). § 6 Abs 1 Nr 3 EStG verweist auf die Bewertungsmaßstäbe AK/HK. Diese sind indes auf Rückstellungen nicht sinnvoll anwendbar (Christiansen, Steuerliche Rückstellungsbildung, 42f). Zum Erfordernis der Vollkostenbewertung s Rn 1001.
Rn. 987
Stand: EL 175 – ET: 09/2024
In dem Verfahren XI R 46/17 hatte der BFH die Gelegenheit zu klären, ob der niedrigere Wert nach § 253 Abs 1 S 2 HGB aus der HB für eine Rückstellung die Obergrenze bildet gegenüber einem höheren steuerrechtlichen Rückstellungswert. Dabei beruht dieses Revisionsverfahren auf einer Entscheidung des FG RP v 07.12.2016, 1 K 1912/14, EFG 2017, 693, in der dieses Gericht die Auffassung vertreten hat, dass Rückstellungen in der StB den zulässigen Ansatz in der HB nicht überschreiten dürfen.
Der BFH stimmte der Auffassung der Vorinstanz zu und lehnte die Revision als unbegründet ab. Denn auch nach Auffassung des BFH bildet der handelsbilanzielle Wert für eine Rückstellung auch nach Inkrafttreten des BilMoG gegenüber einem höheren steuerrechtlichen Rückstellungswert die Wertobergrenze. Dies ergibt sich aus § 5 Abs 1 S 1 EStG iVm 6 Abs 1 Nr 3a EStG, konkret aus dem Wortlaut in § 6 Abs 1 Nr 3a EStG "höchstens insbesondere" (BFH v 20.11.2019, XI R 46/17, BStBl II 2020, 195; LfSt Niedersachsen v 21.02.2024, S 2137-St 221/St 224a-282/2024, FMNR202400392). Sollte der handelsrechtliche Rückstellungsbetrag dagegen über dem steuerrechtlichen Wertansatz liegen, durchbricht § 5 Abs 6 EStG iVm § 6 Abs 1 Nr 3a EStG die nach dem Maßgeblichkeitsgrundsatz zu beachtende handelsrechtliche Bewertung. Es ist in der Steuerbilanz der niedrigere steuerrechtliche Wertansatz zu berücksichtigen.
Die aktuelle Rechtslage zeigt sich wie folgt:
Verhältnis der Rückstellungshöhe |
Folge für die Steuerbilanz |
Handelsrechtlicher Wertansatz > steuerliche Rückstellung |
Steuerliche Rückstellung ist maßgeblich (da niedriger) |
Handelsrechtlicher Wertansatz < ste... |