Rn. 65
Stand: EL 172 – ET: 04/2024
Die Regelung in § 70 Abs 1 S 2 EStG entspricht inhaltlich der vormaligen Regelung in § 66 Abs 3 EStG aF, die durch das das SteuerumgehungsbekämpfungsG (StUmgBG) vom 23.07.2017, BGBl I 1682 in § 66 EStG eingefügt und die durch Art 9 Nr 10 des Gesetzes gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch vom 11.07.2019, BGBl I 2019, 1066 aufgehoben worden ist. Die Regelung in § 66 Abs 3 EStG aF sollte nach der Gesetzesbegründung zum StUmgBG verhindern, dass für einen mehrjährigen Zeitraum in der Vergangenheit rückwirkend Kindergeld ausgezahlt werden kann, BT-Drucks 18/12127, 62; dieses Ziel verfolgt auch die Regelung in § 70 Abs 1 S 2 EStG. Insoweit weicht die Regelung in § 70 Abs 1 S 2 EStG von der des § 169 AO ab, der eine reguläre Festsetzungsfrist von 4 Jahren beinhaltet. Da das Kindergeld die steuerliche Freistellung des Existenzminimums eines Kindes im laufenden Kj sicherstellen soll, bedarf es keiner mehrjährigen Rückwirkung, zumal Anträge auf Kindergeld regelmäßig zeitnah gestellt werden. Auch in den Fällen, in denen das Kindergeld vollständig der Familienförderung iSd § 31 Abs 2 EStG dient, bedarf es keines Gleichklangs mit der steuerlichen Festsetzungsfrist.
Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Auszahlungsbeschränkung (§ 70 Abs 1 S 3 EStG) bestehen nicht; die Frist als solche und die Dauer von 6 Monaten vor Beginn des Monats, an dem der Kindergeldantrag eingegangen ist, erscheinen noch verfassungsgemäß, BFH vom 22.09.2022, III R 21/21, BStBl II 2023, 249; FG SchlH vom 17.05.2022, 4 K 110/21 (Rev BFH III R 27/22); vgl auch BFH vom 24.10.2000, VI R 65/99, BStBl II 2001, 109; BFH vom 14.05.2002, VIII R 68/00, BFH/NV 2002, 1293 (Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, Beschluss des BVerfG vom 06.11.2003, 2 BvR 1240/02) zur gleich lautenden Regelung in § 66 Abs 3 EStG aF, der mit Wirkung ab dem 01.01.1998 aufgehoben worden ist. Dem Kindergeldberechtigten ist jedoch zur Vermeidung von Rechtsverlusten anzuraten, den Antrag nicht erst gegen Ende der Frist zu stellen und sich den Eingang des Kindergeldantrags von der Familienkasse bestätigen zu lassen.
Auch in den Fällen, in denen ein Kindergeldanspruch für ein behindertes Kind besteht, ist dieser innerhalb der Frist von 6 Monaten geltend zu machen. Im Rahmen des § 32 Abs 4 S 1 Nr 3 EStG ist die Prüfung des Imstandeseins zum Selbstunterhalt für jeden einzelnen Monat durchzuführen, BFH vom 05.02.2015, III R 31/13, BStBl II 2015, 1017; BFH vom 04.11.2003, VIII R 43/02, BStBl II 2010, 1046; BFH vom 11.04.2013, III R 35/11, BStBl II 2013, 1037.
Erreichen die Einkünfte und Bezüge des Kindes die Summe aus Grundbedarf und behinderungsbedingtem Mehrbedarf, so kann das Kind sich selbst unterhalten mit der Folge, dass den Eltern kein Anspruch auf den Kinderfreibetrag, wohl aber der Anspruch auf Kindergeld zusteht. Aus diesem Grunde ist den Eltern behinderter Kinder zu raten, stets frühzeitig einen Antrag auf Kindergeld zu stellen. Stellt sich nämlich erst bei der Veranlagung zur ESt der Eltern heraus, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes die Summe aus Grundbedarf und behinderungsbedingtem Mehrbedarf erreichen, ist die Frist für die rückwirkende Beantragung des Kindergelds im Regelfall verstrichen.
Da die Eltern eines behinderten Kindes nicht gehindert sind, rechtzeitig den Antrag auf Kindergeld zu stellen, ergab sich jedoch auch in dieser Fallgestaltung keine Verfassungswidrigkeit der Vorschrift des § 66 Abs 3 EStG aF; vgl aber BFH vom 24.01.2000, VI R 65/99, BStBl II 2001, 109, wonach für atypische Fallgestaltungen die Auswirkungen der Sechsmonatsfrist im Billigkeitsverfahren korrigiert werden können. Dies betraf insbesondere die Fälle in Bezug auf § 32 EStG aF, in denen sich erst in der zweiten Jahreshälfte ergab, dass entgegen der zu Jahresbeginn sachgemäß gestellten Prognose über die Kindeseinkünfte und -bezüge diese den Jahresgrenzbetrag aufgrund besonderer Umstände wider Erwarten nicht überschreiten werden.
Rn. 65a
Stand: EL 172 – ET: 04/2024
Die Auszahlungsbeschränkung nach § 70 Abs 1 S 2 EStG ist Teil des Erhebungsverfahrens. Entscheidet die Familienkasse, dass nach § 70 Abs 1 S 2 und 3 EStG keine Auszahlung des Kindergeldes zu erfolgen hat, ist darin ein Abrechnungsbescheid iSd § 218 Abs 2 AO zu sehen, vgl BFH vom 19.02.2020, III R 70/18, BStBl II 2020, 707 zu § 66 Abs 3 EStG aF; FG Nds vom 18.05.2022, 9 K 140/21. Die Qualifizierung als Abrechnungsbescheid hängt nicht davon ab, dass die Familienkasse ihre Entscheidung ausdrücklich als Abrechnungsbescheid oder als Bescheid nach § 218 Abs. 2 AO bezeichnet. Fraglich ist, ob der alleinige Hinweis der Familienkasse auf § 70 Abs 1 S 2 EStG für sich betrachtet eine Einschränkung der vorgenommenen Festsetzung darstellt, vgl dazu FG Nbg vom 30.03.2022, 3 K 783/21 (Rev BFH III R 19/22).
Nach Auffassung der Verwaltung (V 23.4. S 3 DA-KG 2023) soll § 70 Abs 1 S 2 EStG nur auf Neuanträge anzuwenden sein. Dem Wortlaut der Vorschrift lässt sich jedoch keine Beschränku...