Entscheidungsstichwort (Thema)
Rückzahlungsanspruch gegen Sozialversicherungsträger auf vom Insolvenzschuldner geleistete Sozialversicherungsbeiträge. Anfechtung von Zahlungen. Zwangsvollstreckungsmaßnahmen als inkongruente Rechtshandlungen. Erledigungserklärung des Insolvenzantrags. Im Zeitpunkt der Zahlungen bestehende objektive Zahlungsunfähigkeit des Insolvenzschuldners und Kenntnis des Insolvenzverwalters von der Zahlungsunfähigkeit. Keine wieder eingetretene Zahlungsfähigkeit. Bevorzugte Leistung an den antragstellenden Gläubiger. Kein Rückforderungsanspruch gegenüber Sozialversicherungsträger auf Arbeitnehmeranteile an den Sozialversicherungsbeiträgen. Keine treuhänderische Bindung
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Insolvenzverwalter hat einen Rückzahlungsanspruch gegen den Sozialversicherungsträger auf vom Insolvenzschuldner geleistete Sozialversicherungsbeiträge, wenn die Zahlungen in kritischer Insolvenzphase in unwirksamer oder anfechtbarer Weise, z. B. bei Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit zur Abwendung der drohenden Eröffnung des Insolvenzverfahrens, erfolgten.
2. Ein für erledigt erklärter Insolvenzantrag steht einem zurückgenommenen oder zurückgewiesenen Antrag gleich. Da ein wirksam für erledigt erklärter Insolvenzantrag von sich aus nicht mehr zu einer Verfahrenseröffnung führen kann, kann er auch nach § 139 Abs. 2 InsO keine Grundlage einer Anfechtung sein.
3. Zahlungen an den Sozialversicherungsträger sind anfechtbar, wenn zum einen der Schuldner zur Zeit der Zahlungen objektiv zahlungsunfähig war. Das ist i.d.R. anzunehmen, wenn der Schuldner nicht in der Lage ist, seine fälligen Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen, indem er seine freiwilligen Zahlungen einstellt. Zum anderen muss der Sozialversicherungsträger zu dieser Zeit die Zahlungsunfähigkeit kennen. Eine einmal eingetretene Zahlungsunfähigkeit wirkt grundsätzlich fort. Sie kann nur dadurch wieder beseitigt werden, dass die Zahlungen im Allgemeinen wieder aufgenommen werden.
4. Der Insolvenzverwalter kann nur Ansprüche zur Insolvenzmasse geltend machen, also etwaige Rückzahlungsansprüche der Arbeitnehmer gegen den Sozialversicherungsträger nicht einklagen. Der Arbeitgeber hat keinen eigenen Rückforderungsanspruch gegenüber dem Sozialversicherungsträger auf Arbeitnehmeranteile an den Sozialversicherungsbeiträgen. Eine treuhänderische Bindung der gezahlten Sozialversicherungsbeiträge liegt nicht vor, wenn Zahlungen aus einem erheblich im Soll geführten Bankkonto der Insolvenzschuldnerin erfolgen.
Normenkette
InsO §§ 88, 143 Abs. 1 S. 1, § 131 Abs. 1 Nrn. 1-3, § 139 Abs. 2 S. 1, § 17 Abs. 2, § 130 Abs. 1 Nrn. 1-2; SGB IV § 28e Abs. 1, § 26 Abs. 3; BGB § 389
Verfahrensgang
LG Frankfurt am Main (Urteil vom 20.07.2001; Aktenzeichen 2/4 O 359/00) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom 20. Juli 2001 – 2-04 O 359/00 – abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger EUR 29.602,56 nebst 4% Zinsen aus EUR 29.533,55 seit dem 1. März 2000 und 5% Zinsen aus EUR 69,01 seit dem 8. Mai 2001 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass eine Beitragsforderung der Beklagten gegenüber dem Kläger für die Zeit von Dezember 1999 bis April 2000 in Höhe eines Betrages von DM 19.865,03 (= EUR 10.156,83) erloschen ist.
Von den Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger 1/4 und die Beklagte 3/4.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120% des aufgrund dieses Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger verlangt von der Beklagten Rückzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen, die von der Insolvenzschuldnerin, der Firma Baugeschäft …, gezahlt wurden, was allerdings in kritischer Insolvenzphase in unwirksamer oder anfechtbarer Weise geschehen sein soll.
Am 4. Februar 1999 stellte die Beklagte wegen rückständiger Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von DM 40.107,52 Insolvenzantrag gegen die Insolvenzschuldnerin. Während des Antragsverfahrens erhöhte die Beklagte ihre Ansprüche für die Monate Januar bis Mai 1999.
Zwischen Januar und Juni 1999 erbrachte die Insolvenzschuldnerin sechs Zahlungen per Scheck im Gesamtumfange von DM 46.304,29. Wegen der Einzelaufstellung wird auf das landgerichtliche Urteil (Bl. 211 d.A.) verwiesen.
Mit Schreiben vom 30. Juli 1999 erklärte die Beklagte daraufhin ihren Insolvenzantrag wegen Ausgleichs ihrer Forderungen in der Hauptsache für erledigt.
Am 13. August 1999 überwies die Insolvenzschuldnerin der Beklagten an weiteren Sozialversicherungsbeiträgen erneut einen Betrag von DM 57.772,60 (Bl. 187 d.A.).
Durch Beschluss vom 19. August 1999 stellte das Insolvenzgericht die Erledigung des Antrags der Beklagten fest (Bl. 4–5 d.A.).
Bereits am 2. August 1999 hatte auch das Finanzamt Offenbach einen Insolvenzantrag wegen Steuerrückständen von etwa DM...