Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegungsfähigkeit und -bedürftigkeit der Rücknahme eines Einspruchs. Duldungsvollmacht
Leitsatz (redaktionell)
1. Eine Duldungsvollmacht liegt vor, wenn der Vertretene es wissentlich geschehen lässt, dass ein anderer für ihn in Vertretung auftritt und der Geschäftsgegner dieses Dulden nach Treu und Glauben dahin verstehen darf, dass der als Vertreter handelnde bevollmächtigt ist. Davon ist bei einer Mitarbeiterin einer Steuerberatungsgesellschaft auszugehen, die mit Kenntnis der Gesellschaft Einspruch eingelegt hatte. Die von dieser Mitarbeiterin erklärte Rücknahme dieses Einspruchs ist deshalb nicht bereits wegen fehlender Bevollmächtigung unwirksam.
2. Die Rücknahme eines Einspruchs besteht in der Erklärung, dass das Ersuchen um Überprüfung des angefochtenen Verwaltungsakts oder um Erlass eines unterlassenen Verwaltungsakts nicht weiter verfolgt werden soll. Es handelt sich wie beim Einspruch selbst um eine empfangsbedürftige, bedingungsfeindliche Willenserklärung des Verfahrensrechts. Wie die Einlegung unterliegt auch die Rücknahme des Einspruchs den Auslegungsregeln der §§ 133, 157 BGB.
3. Eine Rücknahmeerklärung ist auslegungsfähig und auslegungsbedürftig, wenn sie zwar dem Wortlaut nach eindeutig, jedoch der mit ihr verfolgte Zweck im Gesamtkontext unter Einbeziehung sämtlicher dem FA bekannten Umstände nicht eindeutig erkennbar ist. Dies war im Streitfall der Fall, da die Rücknahme als Reaktion auf die Bitte des FA um Stellungnahme zu einem Erledigungsvorschlag erklärt wurde, mit dem im Ergebnis dem Einspruch durch Herabsetzung der Steuer auf null vollumfänglich abgeholfen worden wäre.
Normenkette
AO § 80 Abs. 1 S. 1, § 362 Abs. 1-2; BGB §§ 133, 157
Tenor
1. Die Einspruchsentscheidung vom 15.06.2015 wird aufgehoben.
2. Die Kosten des Verfahrens werden dem Beklagten auferlegt.
3. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Tatbestand
Streitig ist die Wirksamkeit einer Einspruchsrücknahme gegen die Einkommensteuerfestsetzung 2013.
Von der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 2013 der zusammen zur Einkommensteuer veranlagten Kläger wich das Finanzamt ab, indem es die geltend gemachten Aufwendungen für die Betreuung der Klägerin im eigenen Haushalt in Höhe von 17.416 EUR nicht im Rahmen der Steuerermäßigung gemäß § 35 a Abs. 2 EStG berücksichtigte. Gegen den mit entsprechenden Erläuterungen versehenen Einkommensteuerbescheid 2013 vom 18.12.2014 (Rechtsbehelfsakte Blatt 1) ging am 08.01.2015 unter dem üblichen Briefkopf der Steuerberatungsgesellschaft X. Steuerberatungsgesellschaft mbH, deren Geschäftsführer der Prozessbevollmächtigte ist, ein Einspruchsschreiben vom 06.01.2015 im Finanzamt ein (Rechtsbehelfsakte Blatt 4). Das Einspruchsschreiben ist unterschrieben von M., einer Mitarbeiterin der oben angeführten Steuerberatungsgesellschaft, mit der handschriftlichen Unterschrift „i. A. M.”. Hierbei handelt es sich ausweislich des Internetauftritts der oben angeführten Steuerberatungsgesellschaft (Rechtsbehelfsakte Blatt 97) um eine Mitarbeiterin, die für Service, Empfang und für Arbeitnehmersteuererklärungen zuständig ist.
Unter Bezugnahme auf den Einspruch forderte das Finanzamt mit Schreiben vom 12.01.2015 (Rechtsbehelfsakte Blatt 43) die Steuerberatungsgesellschaft zur Vorlage einer Kopie des Schwerbehindertenausweises der Klägerin, des Vertrages mit einer Vermittlungsagentur, der Verträge mit den jeweiligen ausländischen Pflegekräften sowie ggf. eines Bewilligungsbescheides für eine Pflegestufe für die Klägerin auf. Weiterhin forderte das Finanzamt im Ergebnis einer vorgenommenen Gesamtfallprüfung die Steuerberatungsgesellschaft dazu auf, den behinderungsbedingten Mehraufwand im Zusammenhang mit einem „behindertengerechten Umbau” des PC nachzuweisen, die berufliche Veranlassung eines Nachtsichtgeräts des Klägers nachzuweisen sowie die berufliche Veranlassung von Jagdaufwendungen des Klägers nachzuweisen. In der Folge ist eine Vielzahl entsprechender Unterlagen zu den Akten gelangt (Rechtsbehelfsakte Blatt 46 bis 69) sowie eine mit handschriftlichen Anmerkungen und einer unter dem 03.02.2015 datierten Unterschrift versehenen Kopie des behördlichen Schreibens vom 12.01.2015 (Rechtsbehelfsakte Blatt 44, 45). Die auf der Kopie angebrachte Unterschrift (Rechtsbehelfsakte Blatt 45) stammt offenkundig vom Kläger (Ergebnis eines Abgleichs mit den Unterschriften des Klägers auf seinem Dienstausweis, Rechtsbehelfsakte Blatt 67, sowie auf der Prozessvollmacht, Blatt 35 der Akte). Mit E-Mail vom 04.02.2015 hatte Frau M. außerdem dem damals mit der Einspruchsbearbeitung befassten Sachbearbeiter unter Bezugnahme auf eine stattgefundene Besprechung „wie eben besprochen”) Kontoauszüge übermittelt, aus denen ersichtlich war, in welcher Höhe der Klägerin Pflegegeld gezahlt wurde (Rechts...