Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 208
Die abweichende Steuerfestsetzung nach Abs. 1 S. 1 setzt keinen Antrag des Stpfl. voraus, auch seine Zustimmung ist nicht erforderlich. In der Praxis wird jedoch eine Billigkeitsmaßnahme nach Abs. 1 S. 1 nur auf Antrag ergehen. Dagegen ist eine Billigkeitsmaßnahme nach Abs. 1 S. 2 nur mit Zustimmung des Stpfl. zulässig, da sich häufig nicht übersehen lässt, ob nicht durch die Billigkeitsmaßnahme negative Folgen in späteren Jahren eintreten. Fehlt in diesen Fällen die erforderliche Zustimmung, kann dieser Fehler entsprechend § 126 Abs. 1 Nr. 1 AO geheilt werden.
Rz. 208a
Für den Antrag auf Billigkeitsmaßnahmen besteht keine Frist. Dadurch entstehen Probleme bei einem Antrag auf abweichende Steuerfestsetzung, der lange Zeit nach dem Ablauf des Veranlagungszeitraums gestellt wird. Da die Billigkeitsmaßnahme ein Grundlagenbescheid ist, wäre eine Anpassung des Folgebescheids nach § 171 Abs. 10 AO auch dann noch möglich, wenn die Festsetzungsfrist für den Folgebescheid eigentlich schon abgelaufen wäre. Nach der bisherigen Rechtslage, die für alle Fälle gilt, bei denen die Festsetzungsfrist für den Steuerbescheid am 31.12.2014 bereits abgelaufen war, hatte die Rechtsprechung eine besondere Regelung zur Verhinderung verspäteter Anträge geschaffen (hierzu Rz. 208c). Soweit die Festsetzungsfrist am 31.12.2014 noch nicht abgelaufen war, führt die Einführung des § 171 Abs. 10 S. 2 (jetzt S. 3) AO zu einer Lösung. Dabei ist zu unterscheiden, ob die Steuerfestsetzung unanfechtbar geworden ist, oder ob die Festsetzungsfrist abgelaufen ist.
Rz. 208b
Der Antrag auf abweichende Steuerfestsetzung kann vor, aber auch nach Unanfechtbarkeit der Steuerfestsetzung gestellt werden. Allerdings darf die Billigkeitsmaßnahme nicht zu dem Zweck dienen, unrichtige Steuerfestsetzungen zu berichtigen, bei denen eine Änderung nach §§ 172ff. AO nicht in Betracht kommt; vgl. Rz. 42. Die Ablehnung einer Billigkeitsmaßnahme allein deshalb, weil Billigkeitsmaßnahmen nur ergriffen werden sollten, wenn der Fall noch nicht abgeschlossen (d. h. noch nicht bestandskräftig veranlagt) ist, wäre ermessensfehlerhaft. Der Antrag auf die Billigkeitsmaßnahme unterliegt selbst keiner Frist, auch nicht der Festsetzungsverjährung nach § 169 AO, da die Billigkeitsentscheidung keine Steuerfestsetzung und auch keine Feststellung von Besteuerungsgrundlagen i. S. d. §§ 179ff. AO ist. Daher war eine Billigkeitsmaßnahme bis zum Inkrafttreten des § 171 Abs. 10 S. 2 AO grundsätzlich ohne zeitliche Begrenzung möglich.
Rz. 208c
Da für Fälle, bei denen die Festsetzungsfrist vor dem 31.12.2014 abgelaufen war, eine späte Antragstellung, die wegen des Fehlens einer Festsetzungsfrist für die abweichende Steuerfestsetzung möglich war, aber verhindert werden musste, wurde es dem Stpfl. auferlegt, den Antrag im Rahmen des Zumutbaren zu einem möglichst frühen Zeitpunkt zu stellen, d. h. zu einem Zeitpunkt, zu dem ihm die Gründe, die die Unbilligkeit begründen, bekannt waren und er eine angemessene Überlegungsfrist hatte. Andererseits war ein Antrag, der bis zum Eintritt der Bestandskraft oder kurz danach gestellt worden ist, regelmäßig nicht verspätet, da der Stpfl. erst dann beurteilen konnte, ob die (sachliche) Unbilligkeit durch eine (verfassungskonforme) Auslegung beseitigt worden ist. Der BFH hat einen Antrag auf Billigkeitsmaßnahme, der erst nach Ablauf von 4 Jahren gestellt wurde, als regelmäßig verspätet angesehen. Verallgemeinernd hat der BFH später ausgeführt, dass im Rahmen der Ermessensentscheidung der Zeitablauf zwischen Zahlung und Antragstellung berücksichtigt werden könne. Dabei sei es grundsätzlich eine zulässige Ermessenserwägung, sich hinsichtlich des Zeitablaufs an den zu Rechtsverlust führenden gesetzlichen Fristen, also die Verjährungsfrist, zu orientieren. Die Finanzverwaltung schließt daraus, dass es regelmäßig ermessensgerecht sei, den Billigkeitsantrag abzulehnen, wenn die Festsetzungs- oder Feststellungsfrist des Bescheids abgelaufen ist. Das ist in dieser Allgemeinheit unrichtig, da die Rechtsprechung auf eine Ermessensentscheidung im Einzelfall und darauf abstellt, ob dem Stpfl. eine frühere Antragstellung zumutbar war. Ist das nicht der Fall, kann auch ein Anspruch auf abweichende Steuerfestsetzung bestehen, wenn der Antrag erst nach Ablauf der Festsetzungsfrist gestellt worden ist. Außerdem stellt die Rechtsprechung auf den Zeitraum zwischen Zahlung der Steuer und Antragstellung ab. Es wäre also sachgerechter, nicht die Festsetzungsfrist von 4 Jahren, sondern die Frist für die Zahlungsverjährung von 5 Jahren heranzuziehen. Ist danach ein Antrag auf Billigkeitsmaßnahme unverhältnismäßig spät gestellt worden, ist es nicht ermessensfehlerhaft, ihn wegen dieser Verspätung abzulehnen.
Rz. 208d
Diese in Rz. 200b geschilderte Rechtsprechung ist durch die Einführung des § 171 Abs. 10 S. 2 (jetzt S. 3) AO gegenstandslos geworden. Diese Vorschrift, die für alle Steuerfestsetzungen gilt, für die am 31.12.2014 die Festsetzungsfrist n...