Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 98
Die Vorläufigkeit der Steuerfestsetzung eröffnet der Finanzverwaltung die Möglichkeit der Änderung. Nach dem Gesetzeswortlaut sind dabei zwei verschiedene Änderungstatbestände zu unterscheiden. Nach § 165 Abs. 2 S. 1 AO kann die Finanzbehörde, solange die Vorläufigkeit besteht und in ihrem Rahmen, die Steuerfestsetzung aufheben oder ändern. Voraussetzung ist nicht, dass die Ungewissheit vollständig beseitigt ist. Entsteht die Notwendigkeit einer Änderung, bevor die Ungewissheit vollständig beseitigt ist, etwa weil sich herausstellt, dass die Ungewissheit endgültig ist, wenn die Ungewissheit nur teilweise beseitigt wird, oder entstehen im Rahmen der Vorläufigkeit weitere Ungewissheiten, kann die Finanzbehörde die Steuerfestsetzung ändern, wobei der Vorbehalt, ggf. mit eingeschränktem Inhalt, bestehen bleibt. Diese Änderungsbefugnis unterliegt der Ermessensentscheidung der Finanzbehörde. Ist dagegen die Ungewissheit endgültig beseitigt, hat die Finanzverwaltung die Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 2 S. 2 AO zu ändern, aufzuheben oder den Vorläufigkeitsvorbehalt aufzuheben. Hierbei handelt es sich um eine gebundene Entscheidung, bei der der Finanzbehörde kein Ermessensspielraum zusteht. Beide Änderungsmöglichkeiten können zusammentreffen, wenn die Ungewissheit eine Vorfrage der Steuerfestsetzung betraf und daher auch über die hiervon abhängigen Folgefragen nicht endgültig entschieden werden konnte. Wird dann die Ungewissheit beseitigt, ist die Änderung der Steuerfestsetzung hinsichtlich der Vorfrage auf § 165 Abs. 2 S. 2 AO, hinsichtlich der Folgefragen auf § 165 Abs. 2 S. 2 AO zu stützen.
Rz. 98a
Voraussetzung einer Änderung ist, dass die Steuerfestsetzung hinsichtlich derjenigen Besteuerungsgrundlagen vorläufig war, hinsichtlich derer die Steuer geändert werden soll, auf die sich die Vorläufigkeit also bezogen hat, und dass bei einer Änderung nach § 165 Abs. 2 S. 2 AO die insoweit bestehende Ungewissheit beseitigt ist. Beide Voraussetzungen müssen für eine Änderung oder Aufhebung der Steuerfestsetzung nebeneinander vorliegen. Wegen anderer Besteuerungsgrundlagen und wegen Rechtsfehlern kann die Steuerfestsetzung nicht geändert werden.
Rz. 99
Wird die Vorläufigkeit auf europarechtliche oder verfassungsrechtliche Zweifel nach Abs. 1 S. 2 Nr. 3 gestützt, ist nicht Voraussetzung der Änderung, dass die entsprechende Norm für nicht mit dem Europarecht vereinbar oder für verfassungswidrig erklärt wird. Die Änderung kann auch erfolgen, wenn die europarechtlichen oder verfassungsrechtlichen Zweifel durch eine europarechtskonforme oder verfassungskonforme Auslegung der betroffenen Norm beseitigt werden. Entsprechendes gilt für die Vorläufigkeit nach Abs. 1 S. 2 Nr. 4. Dann ist die Steuerfestsetzung auch dann nach § 165 Abs. 2 AO aufzuheben oder zu ändern, wenn der BFH die betreffende Rechtsnorm einfachgesetzlich anders als bisher von der Verwaltung vertreten auslegt, diese Auslegung zu einer Steuerminderung führt und das Urteil nach den Anweisungen des BMF über den entschiedenen Einzelfall hinaus anzuwenden ist.
Rz. 100
Bei Beseitigung der Ungewissheit hat die Finanzbehörde nach § 165 Abs. 2 S. 2 AO diese Rechtsfolgen zu ziehen; ein Ermessensspielraum steht ihr nicht zu. Ist die Ungewissheit hinsichtlich einzelner Aspekte beseitigt, aber noch nicht vollständig, kann die Finanzbehörde die insoweit eingetretene Klärung nach § 165 Abs. 1 S. 1 AO in einer Änderung verwerten, wobei die Vorläufigkeit, ggf. mit verringertem Umfang, aufrecht erhalten bleibt. Ob sie dies tut oder die endgültige Klärung abwartet, steht in ihrem Ermessen. Ein nach § 165 Abs. 2 S. 1 AO geänderter Bescheid muss also nicht endgültig sein; er kann weiterhin vorläufig ergehen, wenn weiterhin Ungewissheit besteht.
Rz. 101
Beruht die Vorläufigkeit auf Abs. 1 S. 1, muss die Finanzbehörde die Vorläufigkeit bei Beseitigung der Ungewissheit aufheben, wenn es nicht zu einer Änderungsveranlagung kommt. Tut sie dies nicht, bleibt die Vorläufigkeit formal bis zum Ablauf der Festsetzungsfrist bestehen. M. E. kann die Finanzbehörde dann aber von der Vorläufigkeit zulasten des Stpfl. keinen Gebrauch mehr machen, da sie sich die formale Rechtsposition der Änderbarkeit durch einen Rechtsverstoß verschafft hat. Zugunsten des Stpfl. hat eine Änderung aber zu erfolgen, da er aus dem Rechtsverstoß der Behörde keine Nachteile erleiden darf. Es handelt sich um die gleiche Rechtsfrage wie bei § 164 AO.
Rz. 102
Beruht die Vorläufigkeit auf Abs. 1 S. 2, steht es im Ermessen der Finanzbehörde, ob und wann sie nach Beseitigung der Ungewissheit die Vorläufigkeit aufhebt und die Steuerfestsetzung für endgültig erklärt. Verpflichtet zur Aufhebung des Vorläufigkeitsvermerks und zur Endgültigkeitserklärung der Steuerfestsetzung ist sie in diesen Fällen nach Abs. 2 S. 4 nur, wenn der Stpfl. dies beantragt. Dies gilt nur für den Fall, dass die Steuerfestsetzung für endgültig zu erklären ist, sie sich im Ergebnis also als richtig erwiesen hat...