Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 70
Ist die Festsetzungsfrist nach § 169 AO für die unrichtige Steuerfestsetzung bereits abgelaufen, stellt Abs. 1 S. 2 sicher, dass trotzdem noch eine Änderung in gewissem Umfang erfolgen kann. Hinsichtlich der Fristen ist nur maßgebend, dass der Antrag innerhalb der für ihn geltenden Frist gestellt worden ist (vgl. Rz. 66). Ist das geschehen, ist sachlich über den Antrag zu entscheiden, ohne dass dem Fristen, und damit auch die Festsetzungsfrist, entgegenstehen.
Ist die Festsetzungsfrist nur für die richtige Steuerfestsetzung abgelaufen, für die unrichtige aber nicht, ist keine Sonderregelung erforderlich, da die unrichtige Steuerfestsetzung schon nach S. 1 geändert werden kann.
Rz. 71
Nach Ablauf der Festsetzungsfrist für den unrichtigen Steuerbescheid kann eine Änderung oder Aufhebung noch erfolgen, wenn der Antrag hierzu innerhalb eines Jahres gestellt wird, nachdem der letzte der betroffenen Bescheide unanfechtbar geworden ist. "Letzter" Bescheid ist nicht der zuletzt erlassene, sondern der zuletzt unanfechtbar gewordene. Grund für diese Regelung ist, dass erst nach Unanfechtbarkeit aller Bescheide von den Betroffenen sicher festgestellt werden kann, ob tatsächlich eine widerstreitende Steuerfestsetzung vorliegt; damit wäre es nicht vereinbar, würde auf die Unanfechtbarkeit des zuletzt erlassenen Bescheids abgestellt.
Das gleiche Wirtschaftsgut ist im Veranlagungszeitraum 01 bei dem Stpfl. X und bei dem Stpfl. Y aktiviert worden; richtig wäre die Aktivierung bei Y. Die Veranlagungen erfolgen für X im Jahr 03, für Y im Jahr 04; die Festsetzungsfrist endet für X (wegen einer Ablaufhemmung) im Jahr 08, für Y bereits 07. Wird nunmehr die doppelte Aktivierung entdeckt, läuft die Jahresfrist ab Unanfechtbarkeit der Veranlagung für X, die zuletzt unanfechtbar geworden ist, nicht ab Unanfechtbarkeit der Veranlagung für Y mit dem zuletzt erlassenen Bescheid.
Rz. 72
"Unanfechtbarkeit" bedeutet nicht Unabänderlichkeit. Ist daher ein Steuerbescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung oder ein vorläufiger Steuerbescheid nicht angefochten worden, beginnt die Jahresfrist zu laufen, obwohl der Bescheid noch nach § 164 Abs. 2, § 165 Abs. 2 AO geändert werden kann. Hieran ändert auch nichts, dass die Bescheide nach Änderung bzw. nach Aufhebung des Vorbehalts bzw. der Vorläufigkeit noch angefochten werden können, es sei denn, dass erst diese Änderung zu dem Widerstreit führt. Der Stpfl. soll nur Gelegenheit haben, ab bestandskräftigem Eintritt des Widerstreits, d. h. der Unanfechtbarkeit dieser den Widerstreit enthaltenden Steuerfestsetzungen, seine Rechte geltend zu machen. Versäumt er dies, leben die spezifischen Rechtsfolgen des § 174 AO bei einer späteren Änderung der Steuerfestsetzung aus anderen Gründen bzw. bei einem Wegfall der Nebenbestimmungen nicht wieder auf.
Rz. 73
Der Antrag kann noch innerhalb eines Jahres nach Unanfechtbarkeit des letzten Steuerbescheids gestellt werden. Die Jahresfrist beginnt somit mit dem Eintritt der Unanfechtbarkeit zu laufen. Gemeint ist also nicht die Frist von einem Kj. Zur Berechnung der Frist vgl. § 108 AO.
Rz. 74
Ist der Antrag rechtzeitig gestellt, ist es unbeachtlich, wann die Änderung bzw. Aufhebung der Steuerfestsetzung erfolgt; insoweit besteht keine zeitliche Grenze. Für dieses Ergebnis bedarf es einer analogen Anwendung des § 171 Abs. 3 S. 1 AO nicht. § 174 Abs. 1 AO stellt insoweit eine eigenständige Regelung dar. Wenn bestimmt ist, dass der Antrag noch innerhalb einer bestimmten Frist ohne Rücksicht auf Ablauf der Festsetzungsfrist gestellt werden kann, ist damit gleichzeitig geregelt, dass, wenn der Antrag fristgerecht gestellt worden ist, über ihn auch noch entschieden werden kann, ohne dass der Ablauf der Festsetzungsfrist im Weg steht. Dies stellt jetzt der mit Wirkung v. 1.1.1987 durch das Steuerbereinigungsgesetz 1986 v. 19.12.1985, BStBl I 1985, 735 eingefügte S. 3 ausdrücklich klar. Hierbei handelt es sich um eine Klarstellung der schon vorher bestehenden Rechtslage, nicht um eine konstitutive Regelung.