Rz. 4
§ 377 Abs. 1 AO definiert als Steuerordnungswidrigkeiten alle diejenigen Zuwiderhandlungen, die nach den Steuergesetzen mit Geldbuße geahndet werden können und nimmt somit gegenüber § 1 Abs. 1 OWiG eine erhebliche Einschränkung vor. Steuergesetz i. S. d. § 377 Abs. 1 und Abs. 2 AO ist nach allgemeiner Ansicht jede steuerlichen Zwecken dienende Rechtsnorm, unabhängig davon, ob sie im Zusammenhang mit der Ermittlung von Besteuerungsgrundlagen oder der Durchsetzung von Steueransprüchen steht. Rechtsnorm i. d. S. sind somit auch untergesetzliche Normen, d. h. Verordnungen und Satzungen. Neben der Abgabenordnung – mit den dort in den §§ 378–383 AO geregelten Ordnungswidrigkeiten – enthalten auch die Einzelsteuergesetze zahlreiche Steuerordnungswidrigkeiten. Auch Zollordnungswidrigkeiten stellen begrifflich stets "Steuerordnungswidrigkeiten" i. S. d. § 377 Abs. 1 dar.
Rz. 4a
Obwohl es sich nach einhelliger Meinung auch bei der Abgabenordnung um ein Steuergesetz i. S. d. § 377 Abs. 1 und Abs. 2 AO handelt, sah es der Gesetzgeber im Rahmen des Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften vom 17.7.2017 als notwendig an, in Abs. 1 und Abs. 2 des § 377 AO die Wörter "nach den Steuergesetzen" durch die Wörter "nach diesem Gesetz oder den Steuergesetzen" zu ersetzen. Dadurch sollte – ohne dass dafür irgendeine Notwendigkeit bestand – klargestellt werden, dass auch Ordnungswidrigkeiten nach der AO Steuerordnungswidrigkeiten darstellen und die Vorschriften des Ersten Teils des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten auch für die Bußgeldvorschriften der AO gelten. Auch wenn diese neue Diktion der in den ebenfalls durch das Gesetz zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften vom 17.7.2017 eingefügten §§ 2a, 32i Abs. 3 S. 1 AO entspricht, erscheint diese Änderung doch im günstigsten Fall als überflüssig.
Es dürfte aber in jedem Fall unzulässig sein, aus den (mißlungenen) Bemühungen des Gesetzgebers um begriffliche Klarheit den – eigentlich naheliegenden – Umkehrschluss zu ziehen, dass es sich bei der Abgabenordnung selbst nicht um ein Steuergesetz im Sinne der AO handelt, wie z. B. anhand der Formulierung der §§ 2 Abs. 1, 27 S. 1, 29a S. 1, 33 Abs. 1, 41 Abs. 1 S. 2, 42 Abs. 1 S. 1, 43 S. 1, 88 Abs. 3 S. 1, 88 Abs. 5 S. 5, 93c Abs. 1, 93c Abs. 4 S. 1, 140 AO deutlich wird. Dies gilt auch im Hinblick auf den achten Teil der AO, wie sich aus § 369 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 AO ergibt. Es dürfte sich bei der Formulierung "nach diesem Gesetz oder den Steuergesetzen" lediglich um eine gut gemeinte, aber verunglückte sprachliche Fassung mit einer verfehlten Begründung handeln.
Rz. 5
Als Steuerordnungswidrigkeiten sind neben den Tatbeständen der AO z. B. der Verstoß gegen umsatzsteuerliche Ordnungsvorschriften, der Verstoß gegen Mitwirkungspflichten gem. §§ 50e Abs. 1, 50f und 96 Abs. 7 EStG und der Verstoß gegen § 33 Abs. 4 ErbStG anzusehen. Für die Qualifizierung als Steuerordnungswidrigkeit reicht es hingegen nicht aus, dass über Verweisungsketten ein Bezug zur AO hergestellt werden kann. Es handelt sich somit nicht um Steuerordnungswidrigkeiten bei § 130 OWiG, der unbefugten Hilfeleistung in Steuersachen gem. §§ 160ff. StBerG sowie bei den Zuwiderhandlungen gegen §§ 29, 29a BerlFG, § 14 Abs. 3 5. VermBG sowie § 8 Abs. 2 WoBauPG. Für diese Ordnungswidrigkeiten gelten die Regelungen, die auf Steuerordnungswidrigkeiten Bezug nehmen, nur, wenn dies ausdrücklich angeordnet ist. Dies gilt auch, wenn die Finanzverwaltung für die Verfolgung und Ahndung der jeweiligen Ordnungswidrigkeit zuständig ist. Von Bedeutung kann dies z. B. im Hinblick auf die von den allgemeinen Verjährungsregelungen der §§ 31ff. OWiG abweichende Verjährung nach § 384 AO sein.
Rz. 6
Bei Steuerordnungswidrigkeiten besteht gem. § 409 AO eine originäre Verfolgungszuständigkeit der Finanzbehörde. Im Ermittlungs- bzw. Vorverfahren wegen Steuerordnungswidrigkeiten stehen ihr ähnlich umfassende Ermittlungsrechte zu wie im Strafverfahren. So kann sie z. B. gem. § 53 OWiG Beschlagnahmen, Durchsuchungen und Vernehmungen durchführen. Verstöße gegen Ordnungswidrigkeiten, die keine Steuerordnungswidrigkeiten sind, darf die Finanzbehörde nur verfolgen, wenn ihr die entsprechenden Kompetenzen durch ausdrückliche Regelungen zugewiesen worden sind.