Rz. 56

Für den Revisionsbeklagten, der im Verfahren vor dem FG obsiegt hat, besteht im Revisionsverfahren die Gefahr, dass der BFH auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des FG, aber ausgehend von einer anderen materiell-rechtlichen Wertung, zu einer ihm ungünstigen Entscheidung kommt. Da er vor dem FG obsiegt hat, kann er mangels Beschwer selbst keine Revision einlegen. Gleichwohl muss er die Möglichkeit haben, sich gegen tatsächliche Feststellungen, die er für lückenhaft oder fehlerhaft hält und die zu einer für ihn nachteiligen Revisionsentscheidung führen können, zu wenden. Dem dient die allgemein als zulässig angesehene sog. Gegenrüge.[1] Mit ihr kann die Bindung des BFH an einen vom FG nur unvollständig festgestellten Sachverhalt beseitigt werden. Die Rüge ist nicht an die Revisionsbegründungsfrist gebunden und kann unbefristet bis zur Entscheidung des BFH, bei mündlicher Verhandlung bis zu deren Schluss, erhoben werden.[2] Anschlussrevision (vgl. Rz. 57ff.) kann der Revisionsbeklagte in diesem Fall nicht einlegen, da er nicht beschwert ist.

Die Zulässigkeit der Gegenrüge unterliegt den entsprechenden (formellen) Anforderungen an die Verfahrensrügen des Revisionsklägers.[3] Der Verfahrensmangel ist entsprechend den allgemeinen Voraussetzungen für die Verfahrensrüge des Revisionsklägers zu rügen[4], wobei, wenn es für das FG auf die betreffende Feststellung nicht ankam, für die Schlüssigkeit darauf abzustellen ist, ob die Entscheidungserheblichkeit bei einer abweichenden materiell-rechtlichen Beurteilung gegeben ist. Wird mangelnde Sachaufklärung geltend gemacht, ist u. a. vorzutragen, welche entscheidungserheblichen Tatsachen noch einer Aufklärung bedürfen und sich bei einer weiteren Sachaufklärung oder Beweisaufnahme durch das FG voraussichtlich ergeben würden.[5]

Neuer Tatsachenvortrag ist ausgeschlossen.[6] Der BFH hat, soweit erforderlich, die tatsächlichen Feststellungen selbst zu treffen, ob ein Verfahrensmangel gegeben ist.[7]

Auch hier gilt, dass der Revisionsbeklagte mit den Rügen, die er aufgrund seiner prozessualen Mitwirkungspflicht bereits vor dem FG hätte geltend machen können und müssen (Rz. 43), im Revisionsverfahren ausgeschlossen ist.[8] Für die Zulässigkeit dieser Rügen gelten die gleichen Anforderungen wie für Verfahrensrügen des Revisionsklägers.[9] Wird eine prozessuale Mitwirkungspflicht verletzt, handelt es sich um neues tatsächliches Vorbringen, das in der Revisionsinstanz nicht mehr berücksichtigt werden kann.[10] Die Beteiligten müssen daher, um sich in der (evtl.) Position des späteren Revisionsbeklagten die Möglichkeit der Gegenrüge zu sichern, vor dem FG auch die Feststellung der Tatsachen rügen, die sie selbst gar nicht für entscheidungserheblich halten, die jedoch im Revisionsverfahren aufgrund einer anderen materiell-rechtlichen Würdigung des BFH entscheidungserheblich werden und sich zu ihrem Nachteil auswirken können. Dies gilt jedoch nur, wenn der Beteiligte Anlass zu entsprechendem Vortrag hatte, insbes. wenn vor dem FG über diese Tatsachen gestritten wurde.[11] Der Revisionsbeklagte hat mit der Gegenrüge darzulegen, dass er schon vor dem FG wenigstens hilfsweise auf die nunmehr für aufklärungsbedürftig gehaltenen Tatsachen hingewiesen hat[12] bzw. er hat die Gründe darzulegen, weshalb es ihm nicht möglich oder zumutbar war, diese Rüge schon im erstinstanzlichen Verfahren wenigstens hilfsweise vorzubringen.[13]

Auch für den Revisionskläger besteht die Gefahr, dass er aufgrund von Tatsachenfeststellungen unterliegt, die für das FG-Urteil nicht tragend waren und die er daher mangels Entscheidungserheblichkeit nicht revisionsrechtlich angreifen kann, z. B. wenn das FG die Klage als unzulässig abgewiesen hat, der BFH dagegen die Klage als zulässig, aber unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt als begründet ansieht.[14] Der Revisionskläger muss in dieser Situation die Möglichkeit haben, im Wege einer "Gegenrüge" geltend zu machen, bei anderweitiger rechtlicher Würdigung durch den BFH sei der Streitfall nicht entscheidungsreif, weil die – nicht entscheidungserheblichen und daher nicht rügefähigen – tatsächlichen Feststellungen des FG verfahrensfehlerhaft getroffen worden seien.[15]

Nach § 116 Abs. 6 FGO kann der BFH bei begründeten Verfahrensrügen auf eine Nichtzulassungsbeschwerde das FG-Urteil aufheben und die Sache an das FG zurückverweisen. Dementsprechend muss es auch im Nichtzulassungsbeschwerde-Verfahren möglich sein, Gegenrügen vorzubringen.[16]

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