Rz. 59a
Nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 S. 1 UStG berechtigt nur die in einer Rechnung ausgewiesene Steuer zum Vorsteuerabzug, die für die in Rechnung gestellte Leistung auch gesetzlich geschuldet wird. Folge dieser dem Unionsrecht nach dem EuGH-Urteil Genius Holding entsprechende Rechtslage ist, dass der Leistungsempfänger eine gezahlte und nur in Rechnung gestellte, nicht aber gesetzlich für die in Rechnung gestellte Leistung geschuldete Umsatzsteuer vom Rechnungsaussteller zurückzufordern hat. Auf dieser Grundlage hat der EuGH in seinem Urteil Reemtsma entschieden, dass die Grundsätze der Neutralität, der Effektivität und der Nichtdiskriminierung nationalen Rechtsvorschriften, nach denen nur der leistende Unternehmer einen Anspruch auf Erstattung von zu Unrecht als Mehrwertsteuer gezahlten Beträgen gegen die Steuerbehörden hat und der Leistungsempfänger eine zivilrechtliche Klage auf Rückzahlung der zu viel gezahlten Umsatzsteuer gegen diesen leistenden Unternehmer erheben kann, nicht entgegenstehen. Für den Fall, dass eine solche Erstattung der Umsatzsteuer unmöglich ist oder übermäßig erschwert wird, müssen die Mitgliedstaaten allerdings nach dem EuGH-Urteil Reemtsma Mittel vorsehen, die es dem Leistungsempfänger ermöglichen, die zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer erstattet zu bekommen. Dabei wird die Erstattung der Umsatzsteuer insbesondere im Fall der Zahlungsunfähigkeit des leistenden Unternehmers unmöglich oder übermäßig erschwert. Es kann dann geboten sein, dass der Leistungsempfänger seinen Antrag auf Erstattung unmittelbar an die Steuerbehörden richtet (sog. Direktanspruch).
Rz. 59b
Die MwStSystRL ist im Licht der Grundsätze der Effektivität und der Neutralität der MwSt dahingehend auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der ein Steuerpflichtiger, dem ein anderer Steuerpflichtiger eine Dienstleistung erbracht hat, die Erstattung der MwSt, die dieser Dienstleistungserbringer ihm zu Unrecht in Rechnung gestellt und an den Fiskus abgeführt hat, nicht unmittelbar von der Steuerverwaltung verlangen kann, obwohl die Wiedererlangung des fraglichen Betrags vom Dienstleistungserbringer unmöglich oder übermäßig schwierig ist, weil über diesen ein Liquidationsverfahren eröffnet wurde, und obwohl diesen beiden Steuerpflichtigen weder Betrug noch Missbrauch vorgeworfen werden kann, sodass für den betreffenden Mitgliedstaat keine Gefahr eines Steuerausfalls besteht. Der EuGH hat damit seine Grundsätze zum sog. Direktanspruch bestätigt. Nach der Entscheidung ist die sog. Reemtsma-Rechtsprechung des EuGH auf eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens übertragbar. Aus dem Vorabentscheidungsersuchen ging zum einen hervor, dass sich die streitige Dienstleistung auf ein Grundstück bezog, das in einem anderen Mitgliedstaat als dem belegen war, in dem die MwSt irrtümlich entrichtet wurde. In der Rechtssache Reemtsma Cigarettenfabriken waren die Dienstleistungen im betreffenden Mitgliedstaat ebenfalls nicht mehrwertsteuerpflichtig, weil sie in einem anderen Mitgliedstaat erbracht worden waren. Zum anderen ging aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass im vorliegenden Fall weder Missbrauch noch Betrug vorlag, da der Dienstleistungsempfänger und der Dienstleistungserbringer beide gutgläubig waren. Folglich gilt für das Ausgangsverfahren wie für die Rechtssache Reemtsma, dass keine Gefahr eines Steuerausfalls besteht und es für den Dienstleistungsempfänger unmöglich oder übermäßig schwierig ist, vom Dienstleistungserbringer die rechtsgrundlos gezahlte MwSt erstattet zu bekommen, da über diesen zwischenzeitlich ein Liquidationsverfahren eröffnet wurde.
Rz. 59c
Die MwStSystRL sowie der Grundsatz der Neutralität der MwSt und der Effektivitätsgrundsatz verlangen, dass dem Empfänger von Lieferungen von Gegenständen ein Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten MwSt, die er an seine Lieferer gezahlt hat und die diese an die Staatskasse abgeführt haben, einschließlich der damit zusammenhängenden Zinsen, unmittelbar gegen die Steuerbehörde zusteht, wenn er zum einen, ohne dass ihm Betrug, Missbrauch oder Fahrlässigkeit vorgeworfen werden können, diese Erstattung aufgrund der im nationalen Recht vorgesehenen Verjährung nicht mehr von diesen Lieferern fordern kann und zum anderen formal die Möglichkeit besteht, dass diese Lieferer, nachdem sie die ursprünglich an den Empfänger dieser Lieferungen gerichteten Rechnungen berichtigt haben, im Nachhinein von der Steuerbehörde die Erstattung des zu viel gezahlten Betrags verlangen. Wird die von der Steuerbehörde zu Unrecht erhobene MwSt nicht innerhalb einer angemessenen Frist erstattet, ist der Schaden, der dadurch entstanden ist, dass der Betrag, der dieser zu Unrecht erhobenen MwSt entspricht, nicht verfügbar ist, durch die Zahlung von Verzugszinsen auszugleichen. Der Direktanspruch kann weder durch das EuGH-Urteil v. 13.1.2022 noch durch eine fehlende Insolvenz der Vorlieferanten (an die zuviel MwSt gezah...