Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung. unterbliebene Behandlung einer psychischen Erkrankung. kein Ausschlusskriterium für eine Erwerbsminderung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Annahme, eine psychische Erkrankung sei nur dann als erwerbsmindernd anzusehen, wenn eine erfolglos gebliebene Behandlung durchgeführt sei, lässt sich weder mit dem Wortlaut, noch mit der Systematik oder dem Sinn und Zweck des Gesetzes vereinbaren.
2. Der Wortlaut des Gesetzes nimmt keinerlei Unterscheidung danach vor, ob die Krankheit/die Behinderung behandelbar ist oder sie aufgrund fehlender Behandlung unnötig lange aufrechterhalten wurde oder aufgrund dessen "selbstverschuldet" fortdauert.
3. Auch nach der Systematik des Gesetzes kann nicht begründet werden, die fehlende Behandlung einer psychischen Erkrankung als Ausschlusskriterium für eine Erwerbsminderung anzusehen. Insbesondere sieht das Gesetz die Möglichkeit vor, eine Rente nur befristet zu gewähren und dem Versicherten gem § 66 Abs 2, Abs 3 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (juris: SGB 1) Auflagen zu erteilen.
4. Auch nach dem Sinn und Zweck kann die Annahme, eine nicht behandelte psychische Störung sei tatbestandlich nicht als Erwerbsminderung zu werten, nicht überzeugen. Hierin läge eine Negierung der heutigen medizinischen Erkenntnisse, und der Rechtslage des Krankenversicherungsrechts (inklusive der Anerkennung von ICD-10-Codierungen), die psychiatrischen Störungen unzweifelhaft Krankheitswert beimessen. Zudem liegt hierin eine nicht gerechtfertigte Unterscheidung zwischen psychischen und somatischen Erkrankungen. Denn bei körperlichen Erkrankungen wird (von der Rechtsprechung und vom Gesetz) unstreitig nicht als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal einer Erwerbsminderung verlangt, dass eine Behandlung erfolgen muss und andernfalls keine erwerbsmindernde Krankheit vorliegt.
Tenor
1. Der Bescheid der Beklagten vom 09.06.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.02.2016 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verurteilt, ausgehend von einem Leistungsfall am 20.01.2017, ab dem 01.08.2017 befristet bis zum 30.06.2018 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu zahlen.
3. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist, ob der Kläger einen Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit hat.
Der am E. 1961 in der Türkei geborene Kläger ging in seinem Herkunftsland fünf Jahre zur Schule. Im Jahre 1979 siedelte er in die Bundesrepublik Deutschland über und war zunächst in einer Raffinerie, später bis zum Jahre 2002 als Bauhelfer tätig. Danach arbeitete er noch stundenweise als Hausmeister. Er bezieht Arbeitslosengeld II.
Der Kläger beantragte am 28.01.2015 bei der Beklagten die Gewährung einer Versichertenrente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.
Mit Bescheid vom 09.06.2015 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Zwar leide der Kläger unter einer koronaren Dreigefäßerkrankung mit Zustand nach Dilatation und Stent sowie unter einer somatoformen Störung. Er sei aber noch in der Lage, mindestens sechs Stunden arbeitstäglich leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes zu verrichten.
Der Kläger legte gegen den Bescheid am 09.07.2015 Widerspruch ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 01.02.2016 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Mit seiner am 10.02.2016 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er leide unter einer Herzerkrankung und Wirbelsäulenerkrankungen sowie unter einer psychiatrischen Erkrankung.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 09.06.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.02.2016 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Widerspruchsbescheid.
Das Gericht hat zur weiteren medizinischen Sachaufklärung zunächst Befundberichte des behandelnden Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. F. vom 05.09.2016 sowie des Facharztes für Orthopädie Dr. G. vom 14.10.2016 eingeholt.
Das Gericht hat sodann Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens der Fachärztin für Orthopädie Dr. H. vom 25.01.2017 sowie des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie I. vom 13.03.2017.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zahlung einer befristeten Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.
Der Anspruch ergibt sich aus § 43 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI). Danach haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie
1. erwerbsgemindert sind,
2. in den letzten 60 Monaten vor Eintritt der Erwerbsminderung mindestens 36 Monate Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit gezahlt und
3. ...