Dipl.-Finw. (FH) Wilfried Mannek
Rz. 494
Das FG Hessen hat sich dagegen mit Urteil vom 16.2.2016 für den Ansatz des Kurswerts entschieden. Danach sind Anteilsscheine eines offenen Immobilienfonds, deren Rücknahme gemäß § 81 InvG ausgesetzt ist, nicht gemäß § 11 Abs. 4 BewG mit dem Rücknahmepreis, sondern mit dem zum Bewertungsstichtag im Rahmen des Freiverkehrs festgestellten niedrigeren Börsenkurs zu bewerten, da die fehlende Möglichkeit, die Anteilsscheine zum Rücknahmepreis zu liquidieren, einen preisbeeinflussenden Umstand gemäß § 9 Abs. 2 Satz 2 BewG darstellt. Diese preisbeeinflussende Verfügungsbeschränkung ist nicht ungewöhnlich i.S.d. § 9 Abs. 2 Satz 3 Alt. 1 BewG, sondern stellt ein "prägendes Strukturprinzip" und ein "grundsätzlich innewohnendes (Liquiditäts-)Risiko" eines offenen Immobilienfonds dar.
Rz. 495
Somit steht die Entscheidung des FG Hessen im Widerspruch zur Entscheidung des FG Münster vom 15.1.2015.
Rz. 496
Bei dem entschiedenen Fall des FG Hessen handelte es sich um einen offenen Immobilienfonds, bei dem die Rücknahme der Anteilscheine für zwei Jahre ausgesetzt worden ist. Nach Ablauf der Aussetzung wurde den Anlegern mitgeteilt, dass die fehlende Liquidität des Fonds die Kündigung nach § 38 Abs. 1 InvG und dessen Auflösung zu Folge habe. Der Kläger vertrat die Auffassung, dass der Rücknahmewert, der laut InvG vom einem Gutachterausschuss ermittelt werde, zum Besteuerungszeitpunkt nicht mehr zu realisieren gewesen sei, da die Rücknahme der Anteilscheine bereits seit mehreren Jahren ausgesetzt gewesen sei. Bei dem ausgewiesenen Rücknahmewert handele es sich daher um eine reine Fiktion. Deshalb müsse anstelle des Rücknahmepreises der Börsenwert als gemeiner Wert i.S.d. § 9 Abs. 1 BewG angesetzt werden.
Rz. 497
Demgegenüber vertrat die Finanzverwaltung die Auffassung, dass die Wertpapiere gemäß § 11 Abs. 4 BewG auch dann mit dem Rücknahmepreis anzusetzen sind, wenn ein tatsächlicher Kurswert i.S.d. § 11 Abs. 1 BewG zu ermitteln sei. Insoweit verdränge die speziellere Vorschrift des § 11 Abs. 4 BewG die allgemeinere Regelung des § 11 Abs. 1 BewG.
Rz. 498
Das FG Hessen hat die streitgegenständlichen Anteilscheine entgegen der Ansicht des FA nicht mit dem Rücknahmepreis nach § 11 Abs. 4 BewG, sondern mit dem Kurswert nach § 11 Abs. 1 BewG angesetzt. Zur Begründung verweist das FG auf § 9 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 BewG, wonach bei Bewertungen, soweit nichts anderes vorgeschrieben ist, der gemeine Wert zugrunde zu legen ist. Dieser bestimmt sich durch den Preis, der im gewöhnlichen Geschäftsverkehr nach der Beschaffenheit des Wirtschaftsgutes bei einer Veräußerung zu erzielen wäre. Ungewöhnliche oder persönliche Verhältnisse – insbesondere Verfügungsbeschränkungen, die in der Person des Steuerpflichtigen oder eines Rechtsvorgängers begründet sind – sind hierbei nicht zu berücksichtigen (§ 9 Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 BewG).
Rz. 499
Soweit die Bewertung Wertpapiere und Anteile betrifft, sei – so das FG Hessen – in § 11 Abs. 1 BewG bestimmt, dass solche Wertpapiere, die am Stichtag an einer deutschen Börse zum amtlichen Handel zugelassen sind, mit dem niedrigsten am Stichtag notierten Kurs angesetzt werden. Entsprechendes gelte für Wertpapiere, die zum geregelten Markt zugelassen oder in den Freiverkehr einbezogen sind. Gemäß § 11 Abs. 4 BewG seien Wertpapiere, die Rechte der Einleger (Anteilinhaber) gegen eine Kapitalanlagegesellschaft oder einen sonstigen Fonds verbriefen (Anteilscheine), mit dem Rücknahmepreis anzusetzen. Durch das Gesetz zur Anpassung des Investmentsteuergesetzes und anderer Gesetze an das AIFM-Umsetzungsgesetz wurde die Regelung des § 11 Abs. 4 BewG geändert und an die Terminologie des Kapitalanlagegesetzbuchs (KAGB) angepasst. Dies war notwendig geworden, da die – der Regelung des § 11 Abs. 4 BewG zugrunde liegenden – Investmentvermögen nicht mehr im – zwischenzeitlich aufgehobenen – InvG, sondern nunmehr im KAGB geregelt wurden.
Rz. 500
Unter Bezug auf das Urteil des FG Münster vom 15.1.2015 vermochte sich der Senat des FG Hessen der dort vertretenen Auffassung nicht anzuschließen. Insbesondere sah es das FG Hessen nicht als zwingend an, § 11 Abs. 4 BewG dahingehend zu verstehen, dass der Gesetzgeber keinerlei Ausnahme vom Ansatz mit dem Rücknahmepreis zulassen wollte.
Rz. 501
Hierzu führt das FG Hessen aus:
"Bei der Gesetzesauslegung ist nach der herrschenden Meinung auf den objektivierten Willen des Gesetzgebers abzustellen, so wie er sich aus dem Wortlaut der Bestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist ( Drüen in Tipke/Kruse, AO/FGO, Loseblatt, Stand November 2015, § 4 AO, Rdnr. 250 ff., mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesfinanzhofs). Um den in dem Gesetz zum Ausdruck gekommenen objektivierten Willen des Gesetzgebers umzusetzen, darf der Richter sich der verschiedenen anerkannten Auslegungsmethoden ...