1 Systematische Einordnung
Das Vertragsverletzungsverfahren ist ein Verfahren auf europäischer Ebene, mit dem die Einhaltung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) durch die einzelnen Mitgliedstaaten sichergestellt wird. Es ist ein Verfahren, an dem nur der jeweilige Staat und die Organe der EU beteiligt sind. Stpfl. haben kein subjektives Recht und sind an dem Verfahren nicht beteiligt. Sie können auch kein Vertragsverletzungsverfahren einleiten, wenn eine Norm des nationalen Steuerrechts nach ihrer Auffassung gegen den AEUV verstößt, auch wenn die Norm, die durch den Verstoß verletzt wird, dem einzelnen Stpfl. ein subjektives Recht verleiht (z. B. die Europäischen Grundfreiheiten). Der Stpfl. kann sein Recht nur über eine Vorlage zum EuGH, die von einem nationalen Gericht zu erfolgen hat, durchsetzen.
Vertragsverletzungsverfahren sind nicht auf bestimmte Steuerarten begrenzt. Sie können für jede Regelung, die einen grenzüberschreitenden Sachverhalt besteuert, eingeleitet werden.
2 Inhalt
Das Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 258 AEUV ist in 3 Stufen gegliedert. Die erste Stufe bildet das Aufforderungs- bzw. Mahnschreiben der EU-Kommission an den jeweiligen Mitgliedstaat. In diesem Mahnschreiben macht die EU-Kommission auf einen aus ihrer Sicht vorliegenden Verstoß gegen den AEUV aufmerksam und fordert den jeweiligen Mitgliedstaat zur Stellungnahme und ggf. Abhilfe auf. Diese Stufe ist ein förmliches Auskunftsverfahren, das vertraulich bleibt und dessen Ergebnisse nicht veröffentlicht werden. Der jeweilige Mitgliedstaat kann auf das Mahnschreiben in zweifacher Weise reagieren: Er kann darlegen, warum die angegriffene Maßnahme aus seiner Sicht nicht gegen das Europarecht verstößt, oder er kann Abhilfe zusichern oder schaffen. Sofern es sich bei der angegriffenen Maßnahme – wie regelmäßig – um eine gesetzliche Regelung handelt, bedeutet dies, dass eine Gesetzesänderung zu erfolgen hat, um Abhilfe zu schaffen. Die bloße Nichtanwendung, z. B. durch ein BMF-Schreiben, gilt regelmäßig nicht als Abhilfe. Die Abhilfe muss die gleiche Form aufweisen wie der Eingriff.
Wird auf der ersten Stufe keine Abhilfe geschaffen und kann der jeweilige Mitgliedstaat die EU-Kommission nicht von der Europarechtskonformität der angegriffenen Maßnahme überzeugen, geht das Vertragsverletzungsverfahren in die zweite Phase. Auf der zweiten Stufe wird eine mit Gründen versehene Stellungnahme der EU-Kommission an den Mitgliedstaat versendet. Darin wird die Europarechtswidrigkeit der Maßnahme begründet. Die Begründung beruht auf den auf der ersten Stufe ausgetauschten Argumenten und Ansichten. Die mit Gründen versehene Stellungnahme wird in Form von Pressemitteilungen der EU-Kommission veröffentlicht und kann von dem Stpfl. eingesehen werden. Diesen Veröffentlichungen kommt eine gewisse Breitenwirkung zu, da daraus – auch wenn im konkreten Fall eine ausl. Maßnahme angegriffen wird – die Ansicht der EU-Kommission zu vergleichbaren inl. Regelungen abgeleitet werden kann. Teilweise werden bestimmte Problembereiche flächendeckend von der EU-Kommission angegriffen. In diesem Fall werden Vertragsverletzungsverfahren gegen mehrere Staaten eingeleitet, die eine vergleichbare Regelung haben. Auch wenn die Auffassung der EU-Kommission dem Stpfl. bekannt ist, kann er daraus für seine eigene Situation keine unmittelbaren Vorteile ziehen. Die fragliche Regelung des nationalen Rechts bleibt anwendbar, insbesondere ist noch keine vorläufige Festsetzung gem. § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO möglich.
Sofern auch nach Erhalt der begründeten Stellungnahme keine Abhilfe durch den betroffenen Mitgliedstaat erfolgt, kann die dritte Stufe des Vertragsverletzungsverfahrens eingeleitet werden. Die dritte Stufe bedeutet die Anrufung des EuGH. In diesem Verfahren verklagt die EU-Kommission den jeweiligen Mitgliedstaat wegen des Verstoßes gegen den AEUV. Der einzelne Stpfl. ist an diesem Verfahren nicht beteiligt. Mit Urteil des EuGH wird dann endgültig über die Europarechtswidrigkeit bzw. -konformität entschieden. Bis zum Urteil kann die jeweilige Steuerfestsetzung vorläufig gem. § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO erfolgen.
Der Verstoß gegen den AEUV, der in einem Vertragsverletzungsverfahren gerügt werden kann, kann in jeder Maßnahme eines Mitgliedstaats liegen (Verwaltungshandeln, Gesetzgebung, Rspr.). Regelmäßig wird aber eine gesetzliche Regelung Gegenstand des Verfahrens sein. In der Vergangenheit wurden stets Verstöße gegen die europäischen Grundfreiheiten gerügt. Zuletzt wurde aber auch ein Vertragsverletzungsverfahren wegen Verstoßes gegen das Europäische Beihilfeverbot eingeleitet.
3 Praxisfragen
Die EU-Kommission muss jeden Verstoß gegen den AEUV aufnehmen und ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Auch wenn dem Stpfl. im Vertragsverletzungsverfahren kein subjektives Recht zusteht, kann er ein solches initiieren, wenn er von der Europarechtswidrigkeit einer Regelung überzeugt ist. Er kann diesen Verstoß der EU-Kommission in einem einfachen ...