Entscheidungsstichwort (Thema)
Organschaft, Organträger als einziger Steuerpflichtiger Mehrwertsteuergruppe, Innenumsatz, Besteuerung unentgeltlicher Wertabgaben, Leistung einer Organgesellschaft für den hoheitlichen Bereich des Organträgers, Unentgeltliche Wertabgabe
Normenkette
EWGRL 388/77 Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2
Beteiligte
Verfahrensgang
Nachgehend
Tenor
1. Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage
ist dahin auszulegen, dass
er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, zum einzigen Steuerpflichtigen einer Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, den Organträger dieser Gruppe zu bestimmen, wenn dieser in der Lage ist, seinen Willen bei den anderen Mitgliedern dieser Gruppe durchzusetzen, und unter der Voraussetzung, dass diese Bestimmung nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führt.
2. Das Unionsrecht
ist dahin auszulegen, dass
im Fall einer Einheit, die die einzige Steuerpflichtige einer Gruppe von Personen ist, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, und die zum einen wirtschaftliche Tätigkeiten ausübt, für die sie der Steuer unterliegt, und zum anderen Tätigkeiten im Rahmen der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben, für die sie gemäß Art. 4 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie nicht als mehrwertsteuerpflichtig gilt, die Erbringung einer Dienstleistung im Zusammenhang mit dieser hoheitlichen Tätigkeit durch ein Mitglied dieser Gruppe nicht gemäß Art. 6 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie besteuert werden darf.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidung vom 7. Mai 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Juni 2020, in dem Verfahren
Finanzamt T
gegen
S
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Richter P. G. Xuereb (Berichterstatter), T. von Danwitz und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwältin: L. Medina,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und S. Heimerl als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und R. Pethke als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 27. Januar 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 4 und Art. 6 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Finanzamt T (Deutschland) (im Folgenden: Finanzamt) und S, einer deutschen Stiftung öffentlichen Rechts, wegen der Umsatzbesteuerung von S für den Besteuerungszeitraum 2005.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Sechste Richtlinie wurde durch die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) mit Wirkung vom 1. Januar 2007 aufgehoben und ersetzt. In Anbetracht des entscheidungserheblichen Zeitraums unterliegt der Ausgangsrechtsstreit jedoch weiterhin der Sechsten Richtlinie.
Rz. 4
Art. 2 der Sechsten Richtlinie bestimmte:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen:
1. Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt;
…”
Rz. 5
Art. 4 der Sechsten Richtlinie sah vor:
„(1) Als Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis.
…
(4) Der in Absatz 1 verwendete Begriff ‚selbständig’ schließt die Lohn- und Gehaltsempfänger und sonstige Personen von der Besteuerung aus, soweit sie an ihren Arbeitgeber durch einen Arbeitsvertrag oder ein sonstiges Rechtsverhältnis gebunden sind, das hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsentgelts sowie der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers ein Verhältnis der Unterordnung schafft.
Vorbehaltlich der Konsultation nach Artikel 29 steht es jedem Mitgliedstaat frei, im Inland ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber...