Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorsteuerabzug, Umsatzsteuer-Karussellbetrug, Rechtsmissbrauch
Leitsatz (amtlich)
Artikel 17 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der Fassung der Richtlinie 95/7/EG des Rates vom 10. April 1995 ist dahin auszulegen, dass er in dem Fall, dass eine Lieferung an einen Steuerpflichtigen vorgenommen wird, der weder wusste noch wissen konnte, dass der betreffende Umsatz in einen vom Verkäufer begangenen Betrug einbezogen war, einer nationalen Rechtsvorschrift entgegensteht, wonach die Nichtigkeit des Kaufvertrags aufgrund einer zivilrechtlichen Bestimmung, nach der dieser Vertrag unheilbar nichtig ist, weil er wegen eines in der Person des Verkäufers unzulässigen Grundes gegen die öffentliche Ordnung verstößt, zum Verlust des Rechts auf Abzug der von diesem Steuerpflichtigen entrichteten Vorsteuer führt. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Nichtigkeit auf einer Mehrwertsteuerhinterziehung oder einem sonstigen Betrug beruht.
Steht dagegen aufgrund objektiver Umstände fest, dass die Lieferung an einen Steuerpflichtigen vorgenommen wird, der wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligte, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen war, so hat das nationale Gericht diesem Steuerpflichtigen den Vorteil des Rechts auf Vorsteuerabzug zu verweigern.
Normenkette
EWGRL 388/77 Art. 17
Beteiligte
Verfahrensgang
Cour de Cassation (Urteil vom 07.10.2004) |
Tatbestand
„Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie ‐ Vorsteuerabzug ‐ Karussellbetrug ‐ Nach innerstaatlichem Recht unheilbar nichtiger Kaufvertrag“
In den verbundenen Rechtssachen C-439/04 und C-440/04
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG, eingereicht von der Cour de cassation (Belgien) mit Entscheidungen vom 7. Oktober 2004, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Oktober 2004, in den Verfahren
Axel Kittel (C-439/04)
gegen
Belgischer Staat
und
Belgischer Staat (C-440/04)
gegen
Recolta Recycling SPRL
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Rosas sowie der Richter J.-P. Puissochet, S. von Bahr (Berichterstatter), U. Lõhmus und A. Ó Caoimh,
Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer,
Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. Februar 2006,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ von Axel Kittel, vertreten durch J. Bublot, avocat (C-439/04),
‐ der Recolta Recycling SPRL, vertreten durch T. Afschrift und A. Rayet, avocats (C-440/04),
‐ des belgischen Staates, vertreten zunächst durch E. Dominkovits, dann durch L. van den Broeck als Bevollmächtigte im Beistand von B. van de Walle de Ghelcke, avocat,
‐ der italienischen Regierung, vertreten durch I. M. Braguglia als Bevollmächtigten im Beistand von G. De Bellis, avvocato dello Stato,
‐ der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch J.-P. Keppenne und M. Afonso als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. März 2006
folgendes
Urteil
1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) in der Fassung der Richtlinie 95/7/EG des Rates vom 10. April 1995 (ABl. L 102, S. 18) (im Folgenden: Sechste Richtlinie).
2
Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen Herrn Kittel und der Recolta Recycling SPRL (im Folgenden: Recolta) einerseits und dem belgischen Staat andererseits über die Weigerung der belgischen Finanzverwaltung, das Recht auf Abzug von Vorsteuer anzuerkennen, die für Umsätze entrichtet wurde, die in Karussellbetrügereien einbezogen gewesen sein sollen.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
3
Artikel 2 der Ersten Richtlinie 67/227/EWG des Rates vom 11. April 1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer (ABl. 1967, Nr. 71, S. 1301) in der durch die Sechste Richtlinie geänderten Fassung (im Folgenden: Erste Richtlinie) bestimmt:
„Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht auf dem Grundsatz, dass auf Gegenstände und Dienstleistungen, ungeachtet der Zahl der Umsätze, die auf den vor der Besteuerungsstufe liegenden Produktions- und Vertriebsstufen bewirkt wurden, eine allgemeine zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionale Verbrauchssteuer anzuwenden ist.
Bei allen Umsätzen wird die Mehrwertsteuer, die nach dem auf den Gegenstand oder die Dienstleistung anwendbaren Steuersatz auf den Preis des Gegenstands oder der Dienstleistung errechnet wird, abzüglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet, der die ver...