Rüdiger Weimann, Robert C. Prätzler
Rz. 75
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
In der Rechtsprechung wurde das sich aus dem Unionsrecht ergebende Rechtsinstrument des Direktanspruchs in der Umsatzsteuer (auch "Reemtsma-Rechtsprechung") entwickelt. Danach kann unter bestimmten Voraussetzungen ein Leistungsempfänger die Erstattung einer rechtsgrundlos an den Leistenden gezahlten Umsatzsteuer direkt vom Fiskus (statt vom Leistenden) verlangen. Mit BMF-Schreiben vom 12.04.2022 nimmt die Finanzverwaltung – soweit ersichtlich erstmals – dazu Stellung (dazu Weimann, AStW 2022, 738 u. 762).
12.1.1 Grundsatzurteil des EuGH vom 15.03.2007
Rz. 76
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Der EuGH hat entschieden, dass es grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten sei, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen die Rückzahlung der rechtsgrundlos gezahlten Steuer erfolgen kann (Rn. 2 des BMF-Schreibens). Diese Voraussetzungen müssten jedoch den Grundsätzen der Gleichwertigkeit (Äquivalenz) und der Effektivität entsprechen.
Rz. 77
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Ausgehend hiervon stellte der EuGH fest, dass ein Verfahren, nach dem (ähnlich wie in Deutschland) zunächst der Dienstleistungserbringer einen Anspruch gegenüber dem Fiskus und der Dienstleistungsempfänger einen entsprechenden zivilrechtlichen Anspruch gegen den Dienstleistungserbringer hat, mit dem Unionsrecht vereinbar sei.
Rz. 78
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Allerdings erforderten der Grundsatz der Neutralität und Effektivität, dass in Fällen, in denen die Erstattung der Mehrwertsteuer vom Dienstleistungserbringer an den Dienstleistungsempfänger unmöglich oder übermäßig erschwert werde, insbesondere im Fall einer Zahlungsunfähigkeit des Dienstleistungserbringers, der Dienstleistungsempfänger seinen Antrag auf Erstattung unmittelbar an die Steuerbehörden richten kann.
Rz. 79
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Die Mitgliedstaaten müssten deshalb die entsprechenden erforderlichen Mittel und Verfahrensmodalitäten vorsehen. Im Streitfall hatte der Dienstleistungserbringer für eine im Inland nicht steuerbare Leistung Mehrwertsteuer irrtümlich in Rechnung gestellt, diese vom Dienstleistungsempfänger erhalten und an den Fiskus entrichtet. Die oben genannten Grundsätze hat der EuGH auf Erstattungen i. Z. m. der Lieferung von Gegenständen übertragen.
12.1.2 Auflistung der Folgerechtsprechung des BFH
Rz. 80
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Der BFH hat in der Folge bereits mehrfach auf die damals neue EuGH-Rechtsprechung aufgebaut (Rn. 3–7 des BMF-Schreibens).
12.1.3 Rechtsauffassung des BMF
Rz. 81
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Unter Bezugnahme auf das Ergebnis der Erörterungen mit den obersten FinBeh der Länder wird zum Direktanspruch in der Umsatzsteuer folgende Auffassung vertreten:
Das BMF hat 15 Jahre benötigt, um sich zu der Rechtsprechung des EuGH zu positionieren. Das zeigt, wie schwer sich die Finanzverwaltung mit einem Direktanspruch tut. Ein kritischer Blick u. a. in die Einzelregelungen festigt diese Einschätzung.
12.1.3.1 Nur Billigkeitsentscheidung?
Rz. 82
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Über einen Direktanspruch in der Umsatzsteuer ist im Rahmen eines Billigkeitsverfahrens nach den §§ 163, 227 AO zu entscheiden. Zuständig für die Entscheidung über diese Billigkeitsmaßnahme ist das für die Umsatzsteuerfestsetzung des Leistungsempfängers zuständige FA. Zu entscheiden ist regelmäßig darüber, ob ein Betrag in Höhe der in den fraglichen Rechnungen falsch ausgewiesenen Umsatzsteuer trotz Nichtvorliegens der materiell-umsatzsteuerlichen Voraussetzungen – jedenfalls im wirtschaftlichen Ergebnis – als Vorsteuer zu berücksichtigen bzw. ein entsprechender Steueranspruch zu erlassen ist (Rn. 9 des BMF-Schreibens).
Es ist äußerst fraglich, ob ein Ermessen mit der Rechtsprechung des EuGH vereinbar ist. Der EuGH erwähnt kein Ermessen und formuliert vielmehr eine zwingende Rechtsfolge.
12.1.3.2 Berücksichtigung eines eventuellen Mitverschuldens des Leistungsempfängers
Rz. 83
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Bei einer Billigkeitsmaßnahme handelt es sich stets um eine Entscheidung unter Berücksichtigung und Abwägung der besonderen Umstände des Einzelfalles, wobei hinsichtlich des Direktanspruchs neben den abgabenrechtlichen Regelungen (vgl. AEAO zu § 163) ergänzend die nachfolgend beschriebenen Besonderheiten zu beachten sind. Ein vorliegendes Mitverschulden des Leistungsempfängers an der Erstellung der falschen Rechnung ist in die Entscheidung über die Billigkeitsmaßnahme mit einzubeziehen (Rn. 10 des BMF-Schreibens).
Der EuGH sieht keine Prüfung eines Mitverschuldens vor.
12.1.3.3 Direktanspruch nur nachrangig
Rz. 84
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Der Leistungsempfänger hat seinen Anspruch auf Erstattung einer unzutreffend in Rechnung gestellten und rechtsgrundlos gezahlten Umsatzsteuer regelmäßig zunächst zivilrechtlich gegenüber dem Leistenden geltend zu machen. Der Direktanspruch kann daher nur nachrangig gegenüber dem Verfahren zur Steuerberichtigung nach § 14c Abs. 1 UStG zum Tragen kommen (Rn. 11 u. 12 des BMF-Schreibens).
Rz. 85
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Von einer von vornherein unmöglichen oder übermäßig erschwerten Erstattung durch den Leistenden ist regelmäßig nur im Fall eines bereits mangels Masse abgelehnten Insolvenzantrags über dessen Vermögen auszugehen.
Rz. 86
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Die bloße Zahlungsunfähigkeit des Leistenden i. S. d. ...