Rüdiger Weimann, Robert C. Prätzler
Rz. 11
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Da die Wirkung einer europäischen RL für und gegen den Bürger erst mit deren Umsetzung ins nationale Recht eintritt, könnten Mitgliedsländer eine missliebige europäische Rechtslage dadurch vermeiden, dass sie eine RL pflichtwidrig nicht umsetzen. Ein wirksames "Druckmittel", mit dem die Europäischen Gemeinschaften das Mitgliedsland zu Umsetzung zwingen könnten, gibt es formell nicht. Der EuGH hat dennoch ein probates Mittel gefunden, um einem derartigen Fehlverhalten vorzubeugen, und gewährt zu Gunsten des Bürgers die unmittelbare Wirkung der europäischen RL, obschon ein europäisches Mitgliedsland diese eben (noch) nicht in nationales Recht umgesetzt hat (EuGH vom 05.04.1979, Rs. C-148/78, Ministère public/Tulio Ratti, Slg. 1979, 1629).
Sachverhalt des Besprechungsurteils (EuGH, Fall "Ratti"):
RL 73/173/EWG des Rates zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für die Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung von Zubereitungen gefährlicher Stoffe (Lösungsmittel, ABl. 1973 L. Nr. 189, 7 ff.) enthält Kennzeichnungsvorschriften für gefährliche Stoffe. Das italienische Warenkennzeichnungsrecht sieht gegenüber der europäischen RL strengere Kennzeichnungsvorschriften und sogar die Bestrafung für den Fall vor, dass der Verpflichtete dieser strengen Kennzeichnungspflicht nicht nachkommt.
Ein italienisches Gericht verurteilte Herrn Ratti wegen eines Verstoßes gegen die strengeren italienischen Kennzeichnungsvorschriften und ließ dabei das mildere europäische Recht der RL unbeachtet. Der italienische Gesetzgeber hatte die europäischen RL nicht in nationales Recht umgesetzt, obschon die 18-monatige Frist zur Umsetzung der RL abgelaufen war.
Rz. 12
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Der EuGH bejaht grundsätzlich die Möglichkeit der nationalen Gesetzgeber, strengere Vorschriften neben das europäische Recht zu stellen. In diesem Fall verstoßen die strengeren nationalen Regelungen jedoch gegen das europäische Recht. Im Urteilsfall widersprechen die italienischen Vorschriften insbesondere dem Wortlaut, der Systematik und dem Zweck der RL, das Kennzeichnungsrecht für die genannten Produkte für den gesamten europäischen Markt zu vereinheitlichen. So würden Verbraucher irritiert und gefährdet, ließe man unterschiedliche nationale Kennzeichnungen für gefährliche, gesundheitsschädliche Produkte in jedem einzelnen europäischen Mitgliedstaat doch wieder zu. Somit gebührt der RL der Vorrang gegenüber dem italienischen Gesetz. Nach Ansicht des EuGH ist es ohne Bedeutung, dass die RL selbst grundsätzlich keine unmittelbare Wirkung gegenüber Bürgern hat und auch nicht in nationales (hier: italienisches) Recht umgesetzt war: denn der italienische Staat habe die RL 73/173/EWG nicht fristgerecht umgesetzt und diese gewähre dem Bürger die unbedingte und hinreichend bestimmte Vergünstigung geringerer Kennzeichnungsanforderungen. Italien durfte sich daher nach Ablauf der Umsetzungsfrist für die RL nicht zu Lasten des Bürgers auf sein eigenes Fehlverhalten, nämlich der nicht fristgerechten Umsetzung der RL in das italienische Recht, berufen. Italienische Gerichte können also nicht mehr die strengere (gegen das RL-Recht verstoßende) italienische Norm anwenden. Herr Ratti war somit freizusprechen.
CHECKLISTE
Eine europäische RL wirkt dann unmittelbar zu Gunsten des europäischen Bürgers, wenn
- die (nicht umgesetzte) RL,
- ein dem Einzelnen zustehendes Recht i. S. einer den Bürger individuell begünstigten Rechtsposition enthält (Hinweis: Durch Auslegung einer Norm ist zu ermitteln, ob diese dem einzelnen Bürger einer (individuelle) Rechtsposition verschaffen will, oder ob sie sich nur begünstigend an die Allgemeinheit wendet) und
- die RL-Vorschrift diese hinreichend klar und bestimmt zum Ausdruck bringt ("self executing norm").
(Checkliste nach Krimphove, Europarecht Basiswissen, 28)
Rz. 13
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Der EuGH verfolgt mit seiner Rechtsprechung folgenden Gedanken: Es wäre ein Missbrauch des Rechts, wenn sich der Staat auf sein eigenes pflichtwidriges Verhalten (nämlich die nicht fristgerechte Umsetzung der europäischen RL) berufen könnte, um die Wirkung der europäischen RL dem Bürger (dem die bei pflichtgemäßem Verhalten zu Gute gekommen wäre) zu versagen. Lohse (UR 2003, 182) fasst all dies griffig wie folgt zusammen:
TIPP
Mit dieser Rechtsprechung soll verhindert werden, dass der Staat aus der Nichtbeachtung des Gemeinschaftsrechts Nutzen ziehen kann.
Rz. 14
Stand: 6. A. – ET: 07/2024
Schon 1982 erkannte der EuGH unter den o. a. Voraussetzungen auch die unmittelbare Wirkung bestimmter Regelungen der bis zum 31.12.2006 gültigen 6. EG-RL (EuGH vom 19.01.1982, Rs. C-8/81, Ursula Becker, EuGHE 1982, 53 = UR 1982, 71).
Sachverhalt des Besprechungsurteils (EuGH, Fall "Becker"):
Die Klägerin führte im Jahre 1979 Umsätze aus, für die der deutsche Gesetzgeber noch nicht die nach der 6. EG-RL vorgeschriebene Steuerfreiheit in das UStG übernommen hatte. Sie erreichte vor Gericht durch die Vorabent...