Es wird Zeit für die Transformationsrebellen


Zeit für Transformationsrebellen

Das hat gesessen: In ihrem Aufruf machen 50 Unternehmen deutlich, was sie von der Politik fordern. Das ist gut so, findet Stephan Grabmeier und sieht die einmalige Chance, den Wirtschaftsstandort Deutschland neu zu gestalten.

Die Nachricht kam genau um 5.25 Uhr, zur besten Frühaufsteher-Zeit. 54 Unternehmen aus der Stiftung Klimawirtschaft (früher Stiftung 2°) haben am Samstag, den 27. Januar ein clever getimtes Wecksignal an die Medienredaktionen des Landes geschickt. Seitdem sorgt dieses Pamphlet, auch Brandbrief genannt, für reichlich Wirbel. Der Titel:  „Die Transformation als Jahrhundertprojekt: Was die Wirtschaft von der Politik braucht“.

Etwas früher im Jahr, am 8. Januar übergaben über 45 Oberbürgermeister:innen deutscher Städte, mit dem Rat für Nachhaltige Entwicklung, 11 Thesen zur Finanzierung der Transformation zur nachhaltigen Stadt. Auch hier lautete das Ziel: ein Weckruf an die Deutsche Bundesregierung. 

Aufruf von KlimaWirtschaft: Worum geht's eigentlich?

Über 50 Unternehmen und über 45 Bürgermeister:innen rufen die Bundespolitik dazu auf, die grüne Transformation endlich entschlossener anzugehen. Bisher passiert zu wenig und nichts ist entschlossen und zukunftsorientiert genug für die größte Herausforderung der Menschheit. Doch bleiben wir bei den Unternehmen und ihrem Aufruf. Es sind eigentlich nicht so viele, gemessen an der Gesamtzahl der Unternehmen in Deutschland. 

Allerdings sind diese Unternehmen keine unbekannten Kleinstunternehmen oder Ökopioniere. Nein, es sind wahre Schwergewichte. Ihren Aufruf richten sie nicht nur an die Regierungsparteien, sondern auch an die Opposition. Es wird schließlich höchste Zeit, ein gemeinsames Zukunftsbild für das Jahr 2045 zu entwickeln – das Jahr, in dem Deutschland angeblich klimaneutral sein soll. 

Der Appell ist eine Anklage: In der Vergangenheit hätten wir zu oft den grünen Wandel verschlafen. Unser bisheriges Wirtschaftsmodell fahre nostalgisch in Richtung Abgrund. Und die soziale Sprengraft sei überall zu spüren. Es knistere nicht mehr nur, sondern es knallt an vielen Stellen. Die neue rechte Bewegung nutze das aus, sie bedrohe Demokratie und Wohlstand. Deshalb sei es Zeit für einen radikalen Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft.

Die grüne Transformation muss zu einem Business Case werden

Unterzeichnet ist der Appell von Unternehmen wie der Handelsgruppe Otto, dem Flughafenbetreiber Fraport, der Deutschlandtochter der Bank BNP Paribas, der Deutschen Telekom, dem Energiekonzern EON, dem Möbelriesen Ikea, dem Bauunternehmen Strabag, dem Baustoffhersteller Heidelberg Materials oder dem Stahlkonzern Salzgitter. Also von Unternehmen, die mitunter zu den größten Verursachern von Treibhausgasen gehören und denen die Dekarbonisierung besonders viel abverlangt. Viele von ihnen sind Teil des Problems und noch lange nicht Teil der Lösung. Aber auch sie verlangen eine entschlossenere grüne Transformation.

Warum, das ist klar: es geht um nicht weniger als die Menschheit zu retten. Der Planet muss nicht gerettet werden und kann sogar viel besser ohne den Menschen leben. Umgekehrt funktioniert das nicht, auch wenn das viele Verantwortliche aus Politik und Wirtschaft in ihrer Hybris glauben.

Die Unternehmen unterstreichen in dem Brandbrief ihre Investitionen in nachhaltige Prozesse und Lösungen. Die Kombination aus gut ausgebildeten Fachkräften, Ingenieurskunst und Kreativität biete die Chance, eine bedeutende Rolle in der globalen grünen Transformation zu spielen. Für die Wirtschaft ist die Transformation ein Business Case. Und wenn Nachhaltigkeit kein Geschäftsmodell wird, gibt es in Zukunft kein Geschäftsmodell mehr. 

Nachhaltige Wirtschaft: Wo ist unser gemeinsames Bild der Zukunft?

Transformation bedeutet immer ein „weg von“ und ein „hin zu“. Das „weg von“ ist klar: Wir müssen raus aus den fossilen Energien und den fossilen Denk- und Handlungsweisen. Und das möglichst radikal und schnell. Was im großen Transformationsbild fehlt, ist das „hin zu“. Wohin wollen wir gehen? Wer wollen wir gewesen sein, wenn wir in 50 Jahren auf heute zurückblicken?

Weder Regierung noch Opposition gelinge es derzeit, diese Chance für Wettbewerbsfähigkeit, Resilienz, Jobs und Wohlstand zu vermitteln. Zu viele Akteure in der Politik sind keine Transformer. Sie sind Verwalter, nostalgische Bewahrer und teils korrupte Handlanger von Lobbyisten und Wirtschaftsverbänden, denen es oft nur um das Prinzip der Geldmengenmaximierung geht. 

Auf Kosten der Umwelt, der Gesellschaft und letztlich auf unser aller Kosten. Oft geschickt in Narrative verpackt, die andere Ambitionen vermuten lassen, jedoch nichts an der Ursache ändern. Erinnern wir uns daran, als der Ölkonzern BP das Konzept des CO2-Fußabdrucks (Carbon Footprint) weltweit bekannt machte. Das Unternehmen brachte 2004 einen CO2-Rechner heraus, mit dem Menschen berechnen können, für wie viel CO2-Emissionen sie verantwortlich sind. BP lenkte mit dieser Werbekampagne geschickt die Aufmerksamkeit vom massiven CO2-Fußabdruck der Ölkonzerne auf Individuen um. Ein höhnisches Ablenkungsmanöver, denn Einzelpersonen sind nicht die Hauptverursacher von CO2-Emissionen. 

Wir müssen uns von fossilen Denkweisen verabschieden

Die Richtung in der Wirtschaft ist klar und eindeutig. Wir müssen raus aus den fossilen Energien. Je schneller und progressiver, desto zukunftsfähiger. Die Unterstützer dieses Appells haben bereits die Weichen für eine nachhaltige Zukunft in ihren Unternehmen gestellt. Warum? Weil sie die wissenschaftlichen Erkenntnisse begriffen haben, veränderte Regulierung und Stakeholder-Ansprüche erkennen sowie schlicht aufgrund wirtschaftlicher Notwendigkeit. Doch Gesellschaft, öffentlicher Diskurs und politische Entscheidungen halten mit dem Tempo nicht mit. 

In der Transformationswissenschaft spricht man bei so einem Zustand von fehlender Homöosthase. Das bedeutet, die Geschwindigkeit im Außen sollte mit der Geschwindigkeit im Innen kompatibel sein. Sonst entsteht ein Bruch durch die unterschiedlichen Dynamiken. Das Gleiche gilt auch umgekehrt. Aktuell treiben mutige Unternehmer:innen und Bürgermeister:innen die Politik. Während ein Teil der Wirtschaft die grüne Transformation forciert, scheint der andere nicht ganz so enthusiastisch zu sein.

Bürokratie, Bürokratie, Bürokratie ist der Stolperstein, über den sich diese Unternehmen beschweren. Ob gegen das europäische Lieferkettengesetz, gegen spezielle Nachhaltigkeitsberichtsstandards oder gegen die Entwaldungsrichtlinie: In den letzten Wochen hat sich eine massive Widerstandsbewegung formiert. Sie jammern über übermäßige Bürokratie und fordern Zeit für den eigentlichen Wandel.

Die einmalige Chance, den Wirtschaftsstandort Deutschland neu zu gestalten

Natürlich will niemand unnötige Regulierung. Aber man kann den Verdacht nicht abschütteln, dass diejenigen, die den Fortschritt bremsen, die Bürokratie als Ausrede nutzen, um die Transformation zu verlangsamen. Während sich die einen über aufgeschobene Regulierungsprojekte freuen, unterzeichnen die anderen Petitionen, um Brüssel zu zwingen, einen Gang zuzulegen. Welcher Teil will die Erneuerung und welcher Teil klammert sich an die Vergangenheit?

Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), bekannt für seine destruktive Haltung im Klimawandel, zeigt sich nicht beeindruckt von diesem Appell der Klimawirtschaftsrebellen: „Wir sehen keine Veranlassung, zu dieser Aktion Stellung zu beziehen." Danke, was für eine grandiose Unterstützung! Dabei betont der Industrieverband bei anderen Gelegenheiten die wirtschaftlichen Chancen der grünen Transformation. Erinnert das an den BP CO2 footprint?

Die Vorsitzende des Bundesverbandes Nachhaltige Wirtschaft (BNW), Katharina Reuter, spricht von einem epischen Duell zwischen dem fossilen Wirtschaftssystem und den progressiven, zukunftsorientierten Unternehmen. Während die Bremser hartnäckig bleiben, gewinnt ihr Lager immer mehr Zulauf. Sie sieht einen entscheidenden Moment gekommen: „Es geht jetzt um alles!"

Und noch etwas wird aus diesem Aufruf deutlich: Progressive Unternehmen machen sich Sorgen um die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Die Angst wächst, den Anschluss bei der grünen Transformation zu verpassen, während andere Wirtschaftsmächte wie die USA Milliarden in den Umbau ihrer Wirtschaft pumpen. Deutsche Unternehmen könnten im globalen Rennen um die erste nachhaltige Wirtschafts-Revolution den Kürzeren ziehen.

Die sozial-ökologische Transformation hat eigentlich schon angefangen

„Klimaschutz und Nachhaltigkeit sind für Aurubis wesentliche Elemente unserer Unternehmensstrategie“, sagt Roland Harings, Vorstandsvorsitzender des Kupferkonzerns Aurubis, der den Appell mitunterzeichnet hat. „Um auf diesem Weg weiterzugehen, brauchen wir jedoch die nötigen Rahmenbedingungen: Technologieoffenheit, Pragmatismus, Gestaltungsfreiräume, Planungssicherheit. Überregulierung bremst Investitionsbereitschaft und Investitionsfähigkeit aus.“

Für Thomas Schulz, den CEO des Baukonzerns Bilfinger, ist die grüne Transformation „nicht nur eine ökologische Notwendigkeit, sondern auch eine einmalige Gelegenheit für den Industriestandort Deutschland." Und Andreas Schell, CEO des Energiekonzerns EnBW, glaubt, dass die Energiewende gewaltige Chancen für Innovationen, Wertschöpfung und Arbeitsplätze in Deutschland birgt. „Als Unternehmen gehen wir mit hohen Investitionen in Vorleistung, brauchen aber eine koordinierte Planung und einen klaren Förderrahmen.“ 

Neben den erwähnten Unternehmen und Städtevertreter:innen gibt es noch viele tausende Unternehmer:innen (zum Beispiel aus den Initiativen von BNW, B.A.U.M, Gemeinwohlökonomie, Sym Ecosystem oder B Corporation), die verstanden haben, worum es geht. Sie wollen eine sozial-ökologische Zukunft gestalten und haben bereits angefangen. 

Werdet laut, alle! Je mehr, umso besser. Dann werden sich nämlich immer mehr Unternehmen einer progressiven Transformation für eine bessere Zukunft anschließen. Dann fällt es auch Nostalgikern leicht loszulassen und an der Zukunft zu arbeiten. Wir alle können dabei helfen.