Zu denken gibt auch das Ergebnis einer deutschen Studie aus Januar 2020, die auf einer vom deutschen Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) finanzierten Umfrage, durchgeführt von der Unternehmensberatung Schlange & Co., basiert. An der Umfrage nahmen 27.000 Menschen weltweit teil, mehr als 250 Organisationen unterstützten die weltweite Umfrage unter dem Titel "Global Survey on Sustainability and the SDG’s". Die zentrale Erkenntnis war eindeutig und zugleich ernüchternd: Die 2015 von der UN-Vollversammlung verabschiedeten Nachhaltigkeitsziele sind weltweit weitgehend unbekannt. Der Kenntnisstand innerhalb der Kontrollgruppe wird dabei auf lediglich 37 % geschätzt, dies nach fünf Jahren, also nach einem Drittel der Umsetzungszeit.
Müssen sich Staaten den Vorwurf gefallen lassen, dass sie ihren eingegangenen Verpflichtungen nicht nachkommen, ihre Programmmanagementaufgabe nicht erfüllen, die Bevölkerung, die Wirtschaft und Institutionen nicht ausreichend einbinden? Mangelnde Priorisierung und Kommunikation ist ein Führungsversagen. Der Geschäftsführer der Hamburger Nachhaltigkeitsberatung Schlange & Co., Joachim Schlange, hat dieses Alarmsignal treffend wie folgt kommentiert: "Die Ergebnisse haben uns in ihrer Eindeutigkeit überrascht. Es besteht dringender Handlungsbedarf. Denn wenn noch nicht einmal die Ziele bekannt sind, wer soll sich dann auf den Weg zu mehr Nachhaltigkeit machen?"
Die Studie wertete auch die Top 6 gereihten Ziele gemäß persönlicher Priorisierung der Befragten aus. Die am häufigsten genannten Ziele waren dabei:
- SDG 13 – Maßnahmen zum Klimaschutz
- SDG 3 – Gesundheit und Wohlergehen
- SDG 4 – Hochwertige Bildung
- SDG 15 – Leben an Land
- SDG 6 – Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen
- SDG 12 – Verantwortungsvolle Konsum- und Produktionsmuster
Damit schließt sich auch der Kreis zu einer weiter oben angestellten Überlegung. Das Ziel mit der Nummer 13 "Bekämpfung des Klimawandels" ist am besten bekannt und wird intensiv aufgegriffen. Die Ziele Nummer 5 "Geschlechtergleichstellung", Nummer 10 "Ungleichheiten in und zwischen Ländern verringern" und Nummer 16 "Friedliche und inklusive Gesellschaften", allesamt soziale Nachhaltigkeitsziele, scheinen weitestgehend unbekannt oder erfahren zumindest sehr geringe Aufmerksamkeit. Von den sozialen Zielen reihen sich die SDGs 3 und 4 "Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung" sowie die SDGs 1 und 2 "Bekämpfung von Armut und Hunger" weit oben in der Wahrnehmung ein. Diese Ziele kennen wir bereits aus den MDGs. Doch wissen wir mittlerweile auch, dass eben diese Ziele 1–4 wesentlich von den Zielen 5, 10 und 16 abhängen. Es stellt sich erneut die Frage: Ist es tatsächlich ausreichend, wenn die Aufforderung zur Umsetzung der SDGs in erster Linie an Regierungen und ihre Institutionen gerichtet wird? Ist es effizient und tatsächlich zielführend, den SDGs hauptsächlich im Wege der Regulierung zum Durchbruch verhelfen zu wollen? Oder sind vielmehr breite Involvierung von Wirtschaftstreibenden und Bürger*innen, deren Überzeugung und Mobilisierung zur Umsetzung von maßgeschneiderten Lösungen sinnvoll? Die Antwort liegt wie so oft in der Mitte. Es wird eine ausgewogene Kombination beider Ansätze brauchen.
Eine weitere Dimension kommt hinzu. Selbst wenn wir ausreichend messen und Daten verfügbar machen, bleibt immer noch ein wesentlicher Teil der Probleme im Verborgenen. Oftmals müssen sich Diskriminierung oder Umweltsünden zunächst akkumulieren, eine Eskalation muss eintreten, Ausschreitungen und Katastrophe wahrnehmbar werden bzw. in einer Statistik tatsächlich Niederschlag finden, bevor Handlungsbedarf attestiert wird. Doch ist der Schaden dann bereits angerichtet und die Gesellschaft zahlt einen hohen Preis. Ist diese Situation erst einmal eingetreten, können nur noch die Symptome und Folgen bekämpft werden. Jedoch ist hinlänglich bekannt, dass es sicherer und günstiger ist, Prävention zu betreiben.
Viele Daten werden in keiner Statistik erfasst
All die Fälle von Umweltsünden und Diskriminierung, die sich in keiner Statistik niederschlagen, stellen bereits große Risiken dar. Regierungen sind gefordert, genau hinzusehen und die verfügbaren Daten kritisch zu hinterfragen, dies begleitet durch die Sensibilisierung der Gesellschaft und ihren Einbezug in einen breiten Ethikdiskurs. Andernfalls laufen wir Gefahr, uns einer trügerischen Sicherheit hinzugeben.