Von primärem Analphabetismus spricht man, wenn Betroffene nie oder nur sehr kurz die Gelegenheit hatten, Lesen und Schreiben zu lernen. Durch die hohe Priorität der Schulpflicht trifft das in Deutschland allerdings nur auf sehr wenige Menschen zu, die i. d. R. ohne ausreichende Schulbildung zugewandert sind und weder die deutsche noch ihre Muttersprache in der Schriftform beherrschen. Verbreitet ist demgegenüber der sog. sekundäre Analphabetismus. Davon Betroffene haben in der Schule nur unzureichend lesen und schreiben gelernt und/oder die geringen Kenntnisse nach Schule bzw. Berufsschule weitgehend wieder verloren. In welchem Umfang jemand in der Lage sein muss, mit der Schriftsprache umzugehen, ist dabei sehr stark abhängig von seinem Lebensumfeld. Deshalb wird häufig von funktionalem Analphabetismus gesprochen, der vorliegt, wenn jemand nicht in der Lage ist, die Schriftsprache so zu nutzen, wie es in seinem Lebens- und Arbeitsumfeld erforderlich ist bzw. erwartet wird.

Nach einer im Jahr 2011 durchgeführten Studie der Universität Hamburg wird davon ausgegangen, dass 7,5 Mio. Menschen (14 % der Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter) in Deutschland mindestens funktionale Analphabeten sind und nicht gut genug lesen und schreiben können, um ihren Alltag normal zu bestreiten. Zwar kann die Mehrzahl (ca. 5 Mio.) durchaus einzelne kurze Sätze lesen, aber Texte im Zusammenhang nicht oder nur viel zu mühsam erschließen. 2 Mio. Menschen können nur einzelne Wörter erkennen, etwa 300.000 gar nicht mit Buchstaben umgehen.[1]

Die Ursachen dafür wurden lange vorwiegend im sozialen Umfeld der Betroffenen gesehen. Als besonderes Risiko gilt, wenn in der Herkunftsfamilie die Schriftsprache keine Rolle spielt, also wenig bis gar nicht gelesen und geschrieben wird. So werden für die Kinder die Hürden zu hoch, um in der Grundschule in der üblichen Art und Weise die Schriftsprache zu lernen. Tatsächlich sind bildungsferne Schichten und auch Menschen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, überproportional unter den funktionalen Analphabeten in Deutschland vertreten. Allerdings zeigen neuere Studien, dass auch angeborene Faktoren, vergleichbar der bekannten Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS), eine erhebliche Rolle spielen. Möglicherweise ist es so, dass funktionaler Analphabetismus gerade dann mit einer hohen Wahrscheinlichkeit auftritt, wenn Menschen mit einer solchen angeborenen Schwäche durch ihr Umfeld im Kindesalter nicht ausreichend beim Lesen- und Schreibenlernen unterstützt werden können.

Auf keinen Fall ist davon auszugehen, dass mangelnde Kompetenz im Umgang mit der Schriftsprache automatisch mit geringen kognitiven oder insgesamt lebenspraktischen Fähigkeiten einhergeht. Ca. 80 % der funktionalen Analphabeten haben einen (manchmal auch hochwertigen) Schulabschluss, immerhin die Hälfte ist erwerbstätig.

Der fehlende Zugang zur Schriftsprache hat unstrittig gravierende Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen. Viele Lebens- und Arbeitsbereiche bleiben ihnen verschlossen bzw. werden wegen Scham oder Versagensängsten strikt gemieden, was in einem selbstverstärkenden Prozess verbliebene schriftsprachliche Kompetenzen weiter abnehmen lässt. Alltagssituationen, wie das Orientieren nach Hinweisschildern oder das Ausfüllen von Formularen, können Analphabeten nicht selbstständig bewältigen.

Wie Betroffene mit den bestehenden Einschränkungen umgehen, ist allerdings sehr unterschiedlich. Während viele unter ihren Defiziten sehr leiden und alles daransetzen, mithilfe ausgefeilter Strategien ihren Alltag zu bewältigen, ohne auffällig zu werden, gehen andere offener damit um bzw. arrangieren sich ohne größeren Leidensdruck in ihrer Welt ohne Schriftsprache.

[1] leo. – Level One Studie, Universität Hamburg 2011.

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